Menschenbilder - Jochen Fahrenberg
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218 <strong>Menschenbilder</strong>: Psychologische, biologische, interkulturelle und religiöse Ansichten ( J. <strong>Fahrenberg</strong>, 2007)<br />
den Neutralitätsgebots hin. Im Jahr 2000 wurde ein kleines Modellprojekt eingerichtet, um Personal<br />
für Beratungstätigkeit auf dem Gebiet der sog. Sekten und Psychogruppen zu qualifizieren. In der<br />
weiteren Diskussion ging es vorrangig um drei Bereiche: fundamentalistisch-islamistische Vereinigungen,<br />
Vereinigungen mit Gewinnerzielungsabsichten, die für sich den Status einer religiösen bzw.<br />
weltanschaulichen Gemeinschaft beanspruchen (Beispiel Scientology) sowie die mit Tötungsdelikten<br />
und Massenselbstmord (bisher nur im Ausland) aufgetretenen Weltuntergangssekten. Aus anderen<br />
Initiativen stammen inzwischen die Änderung des Religionsprivilegs im Vereinsrecht, so dass extremistische<br />
Vereinigungen wie die Kalifatstaat-Sekte verboten werden können, und die Gesetzesänderung<br />
im BGB, die unmissverständlich festlegt, dass Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erziehung haben.<br />
Die allgemeine gesetzliche Regelung der Lebensbewältigungshilfe steht jedoch weiterhin aus, obwohl<br />
es auf Länderebene, u.a. in Berlin und Bayern, Initiativen gibt. Im Bundestag wurden die Beschlussempfehlungen<br />
der Expertenkommission zuletzt im Jahr 2002 behandelt, und diese Aussprache machte<br />
deutlich, dass es in dieser wichtigen Angelegenheit insgesamt nur wenig Fortschritte gibt. 19<br />
Alternativmedizin und Heilung<br />
Problematisch sind nicht etwa fernöstliche Techniken der Meditation oder der rhythmischen Bewegungstherapie,<br />
sondern Geistheilung, Wiedererleben früherer Existenzen oder vorgeburtlicher Szenen<br />
(Rebirthing), Aura-Diagnostik, Bach-Blütentherapie, Edelsteintherapie, Energieübertragung durch<br />
Handauflegen – falls solche Praktiken zur Heilung von medizinisch diagnostizierten Erkrankungen<br />
eingesetzt werden. Hier besteht das von den Heilern und Heilpraktikern nicht abschätzbare Risiko,<br />
dass eine tatsächlich wirksame Behandlung verhindert wird. Falls solche paramedizinischen Hilfen nur<br />
zusätzlich zur ärztlichen Therapie gesucht werden, ist die Situation eine andere.<br />
Falsche Toleranz öffnet Kurpfuschern und Scharlatanen die Tür. Warnrufe der Medizin sind berufsethisch<br />
unerlässlich und wären durch – in diesem Fall zynische – Hinweise, jeder habe das Recht<br />
auf eigene Behandlungsentscheidungen (und eigenen Tod), nicht zu ersetzen, weil eine solche Zustimmung<br />
zur Behandlung eine informierte und freie Entscheidung vorausgesetzt hätte.<br />
Natürlich ist der Weg der empirischen Bewährungsprüfung hindernisreich und kann gelegentlich<br />
in Zick-Zack-Linien verlaufen, wird jedoch letztlich von den Prinzipen kritischer Wissenschaft gesteuert.<br />
Dabei haben auch Außenseiter Chancen, falls sie bereit sind, überzeugende Argumente vorzubringen,<br />
die einer unabhängigen Prüfung standhalten. Nach vielen Jahren und langen Serien von<br />
Untersuchungen genießt heute die Akupunktur bei speziellen Anwendungen mehr Evidenz als zu Zeiten<br />
ihrer Einführung in Europa, die Homöopathie kann demgegenüber nach den neusten Analysen sehr<br />
viel weniger therapeutischen Nutzen nachweisen als vielfach angenommen wird. Falls für solche Alternativtherapien<br />
behauptet wird, dass sie nicht so sehr gegen spezielle Symptome, sondern unspezifisch<br />
und ganzheitlich oder erst nach längerer Behandlung wirken, müssen empirische Belege erbracht<br />
werden. In diesem Fall bleibt es eine Bringschuld der Anwender, die als zweckmäßig postulierte Untersuchungsmethodik<br />
eigens zu entwickeln. 20 Tatsächlich könnten wirksame alternative Behandlungen<br />
in einem pluralistischen Gemeinwesen nicht unterdrückt werden. Die klaren Grenzen liegen bei<br />
einer zu befürchtenden Schädigung der Betroffenen.<br />
Darüber hinaus existiert im Gesundheitssystem eine zweite Grenze. Von den gesetzlichen Krankenkassen<br />
werden nur die Kosten einer empirisch bewährten Therapie erstattet. Zum Beispiel hat der<br />
Gemeinsame Bundesausschuss der gesetzlichen Krankenkassen 2006 erneut beschlossen, die Gesprächspsychotherapie<br />
nicht zu bezahlen, da aus der Forschung keine ausreichenden Belege für Nutzen<br />
und Wirksamkeit bei den wichtigsten psychischen Erkrankungen vorliegen. Eine Ausnahme bilden<br />
nur die leichten Depressionen, für die es bereits andere und wirksame Therapien wie Verhaltenstherapie<br />
und Psychoanalyse gibt.<br />
Die anhaltenden Auseinandersetzungen über die alternative und die evidenzbasierte Medizin lassen<br />
erkennen, wie schwer es fällt, einheitliche Bewertungsmaßstäbe zu finden und durchzusetzen.<br />
Evidenzbasiert sind medizinische Entscheidungen, wenn das gründlichste Wissen aus systematischer<br />
Forschung für den einzelnen Patienten genutzt wird, und dabei die Wünsche des Patienten berücksichtigt<br />
werden (David L. Sacket). Die Gültigkeit der Forschungsergebnisse wird aufgrund ihrer methodischen<br />
Qualität eingestuft. Die Meinungsverschiedenheiten haben vor allem zwei Gründe. Die Methodik<br />
der empirischen Bewährungskontrollen und der zusammenfassenden Metaanalysen von publizierten<br />
Ergebnissen hat sich während der vergangenen Jahre zu einer anspruchsvollen wissenschaftlichen