Menschenbilder - Jochen Fahrenberg
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156 <strong>Menschenbilder</strong>: Psychologische, biologische, interkulturelle und religiöse Ansichten ( J. <strong>Fahrenberg</strong>, 2007)<br />
Agnostizismus<br />
Im Unterschied zum Atheismus, der den Glauben an einen Gott entschieden ablehnt, ist die Haltung<br />
des Agnostizismus distanziert und skeptisch. Alle Behauptungen über die Existenz oder die Nicht-<br />
Existenz Gottes bzw. übernatürlicher Welten werden gleichermaßen abgelehnt, weil sie die mögliche<br />
Erkenntnis des Menschen übersteigen. Aus erkenntniskritischen, sprachkritischen und logischen<br />
Gründen handle es sich um eine unzulässige Grenzüberschreitung. Die in der raum-zeitlichen Wirklichkeit<br />
ablaufende Erfahrung des Menschen kann grundsätzlich nichts über eine übernatürliche Sphäre<br />
(Transzendenz) aussagen. Wir wissen nichts darüber und werden darüber auch in Zukunft nichts<br />
wissen (ignoramus, ignorabimus). Es ist aus dieser Sichtweise nicht „sinnvoll“, von Gott zu reden.<br />
Deshalb sollte auf Glaubensaussagen grundsätzlich verzichtet werden. Ähnlich hatte sich schon der<br />
antike Philosoph Protagoras vor zweieinhalb Jahrtausenden geweigert, irgend etwas über Götter auszusagen.<br />
Auch Gotamo Buddha und Konfuzius haben sich in diesem Sinne geäußert.<br />
Die Frage nach Gott ist für den Agnostiker wegen des begrenzten menschlichen Wissens unbeantwortbar,<br />
also die Existenz Gottes weder auszuschließen noch zu bestätigen. Insofern kann der<br />
persönliche Glauben an Gott nicht mit Vernunftgründen ausgeschlossen werden; der Gottesglauben<br />
sei keineswegs mit einer empirisch falsifizierbaren oder verifizierbaren Theorie zu vergleichen. Gottesbeweise<br />
gibt es nicht, doch gilt eine verbreitete Denkregel, sich bei der Konkurrenz verschiedener<br />
Erklärungen für die einfachste unter ihnen zu entscheiden (Sparsamkeitsprinzip im Sinne von „Ockhams<br />
Rasiermesser“, das alle unnötig komplizierten Annahmen abschneidet). 11<br />
Für die Agnostiker entfällt die Begründung der Moral durch göttliche Gebote und Verbote. An<br />
deren Stelle tritt die naturrechtliche, vernünftige Rechtfertigung durch die Menschenwürde und die aus<br />
ihr abgeleiteten Menschenrechte. Diese Überzeugung hat den Vorzug, dass ein so begründetes Rechtssystem<br />
gleichermaßen über alle religiösen Bekenntnisse und auch für Nicht-Religiöse gültig ist (siehe<br />
Menschenwürde, Weltethos und Goldene Regel der Ethik im Kapitel 19).<br />
Die agnostische Grundhaltung legt eine skeptische und pragmatische Vorsicht nahe, wenn sich<br />
jemand auf absolute Wahrheiten, Offenbarung und eine übernatürliche geistige Welt beruft. Es wird<br />
von dem vorgefassten eigenen Standpunkt abhängen, ob hier im Agnostizismus ein Hochmut des<br />
Menschen gegen Gott oder eine Befreiung zur Mündigkeit erkannt wird. Die selbstkritische und bescheidene<br />
Haltung des Agnostikers lässt vielleicht nur zu, in seinem kleinen menschlichen Bereich ein<br />
Ordnungsmuster zu entwickeln, einen sinnvollen Zusammenhang mit dem Leben herzustellen, aber<br />
Dogmen und totalitäre Wahrheiten abzulehnen und stattdessen die widersprüchliche Wirklichkeit auszuhalten.<br />
Die Positionen des Atheismus und des Agnostizimus werden im Weltkatechismus der katholischen<br />
Kirche und in Enzykliken weiterhin scharf verurteilt und als Sünde bzw. als Irrlehre bezeichnet.<br />
Dies gilt auch für den „Pluralismus und Relativismus“, obwohl sich diese Haltungen auf die in den<br />
universalen Menschenrechten verbürgte Glaubensfreiheit berufen können.<br />
Säkularismus wie auch Laizismus bedeuten strikte Trennung von Kirche und Staat, keineswegs<br />
eine Unterdrückung von Religion, sondern Enthaltsamkeit des Staates in Religionsangelegenheiten.<br />
Antiklerikale Laizisten verlangen eine Abschaffung der kirchlichen Machtausübung in der Gesellschaft,<br />
aber nicht der Religionsgemeinschaften. Diese Auffassungen entsprechen der fortschreitenden<br />
Individualisierung, bei der Religion und Weltanschauung zur Privatangelegenheit werden. Genau entgegengesetzte<br />
Forderungen stammen aus dem religiösen Radikalismus der evangelikalen und der muslimischen<br />
Fundamentalisten.<br />
Theologische Alternativen?<br />
Negative Theologie und Prozesstheologie sind neuere Richtungen der Theologie. 12 In der negativen<br />
Theologie wird, wie von Kant u.a., die Möglichkeit der objektiven Erkenntnis Gottes bestritten, denn<br />
das Göttliche ist ein Unvorstellbares jenseits der Welt. Irgendwelche Auskünfte über Eigenschaften<br />
und Wirken Gottes sind unmöglich. Diese Auffassung ähnelt der Mystik, z.B. Meister Eckhart im 13.<br />
Jahrhundert: „Soll Gott gesehen werden, so muss es in einem Lichte geschehen, das Gott selbst ist.<br />
Über der Vernunft, die sucht, ist noch eine andere Vernunft, die nicht mehr sucht“. Die negative Theologie<br />
hat zugleich einen modernen Zug, denn sie könnte die Kontroversen zwischen den Religionen<br />
und ihren speziellen Dogmen überwinden; sie widerspricht allen einzelnen Gottesbildern und Ansprüchen,<br />
den wahren Gott zu kennen, zu verehren und zu besitzen.