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Menschenbilder - Jochen Fahrenberg

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186 <strong>Menschenbilder</strong>: Psychologische, biologische, interkulturelle und religiöse Ansichten ( J. <strong>Fahrenberg</strong>, 2007)<br />

Die Gerichte haben bei einer Anzeige wegen Blasphemie abzuwägen, ob die Störung des öffentlichen<br />

Friedens schwerer wiegt als die verfassungsrechtlich besonders geschützte Meinungs-, Religions-<br />

und Kunstfreiheit. Eine Beschimpfung wird nur bei besonders verletzender Form, d.h. äußerlich<br />

in der Rohheit des Ausdrucks oder inhaltlich im Vorwurf eines schimpflichen Verhaltens, angenommen<br />

(z.B. OLG Köln). Was noch in den 1950er Jahren eine Anzeige wegen Gotteslästerung eingebracht<br />

hätte, z.B. eine auf das Kruzifix bezogene Karikatur, wäre heute zwar zur Provokation tauglich,<br />

aber nicht für eine Anzeige. Bestraft wird hingegen die Schändung von Kirchen, die in verschiedenen<br />

Formen immer wieder begangen wird.<br />

Um die Streichung des Gotteslästerungs-Absatzes gab es Kontroversen, wobei eines der Argumente<br />

lautete, das der allmächtige und vollkommene Gott durch Menschen ohnehin nicht verletzt oder<br />

beleidigt werden könne. Doch in der Vergangenheit war Gotteslästerung ein strafwürdiges Verbrechen,<br />

das die Todesstrafe nach sich ziehen konnte. Auch drastische antiklerikale und antipäpstliche<br />

Satiren und Holzschnitt-Drucke wurden, z.B. in der Reformationszeit, von der Inquisition verfolgt. In<br />

der europäischen Kirchengeschichte war diese Diffamierung namentlich gegen den Islam gerichtet,<br />

doch einige Philosophen und Dichter taten sich ebenfalls hervor, wobei oft Voltaires grobes Mohammed-Drama<br />

von 1741 als Beispiel genannt wird. Aus islamischer Sicht war Salman Rushdies Buch<br />

Satanische Verse mit der Verhöhnung Mohammeds eine so grobe Lästerung und ein so schweres Verbrechen,<br />

dass Ajatollah Chomeini die Todesstrafe verlangte. Im Westen löste diese Fatwah zu Recht<br />

Entsetzen und Ablehnung aus, gelegentlich jedoch mit unzureichender Erinnerung an die bis ins 20.<br />

Jahrhundert reichende Bestrafung von Gotteslästerern in Europa.<br />

Welche Macht verletzte religiöse Gefühle entwickeln, wurde bei dem sogenannten Karikaturenstreit<br />

2006 und im selben Jahr bei der Regensburger Rede von Papst Benedikt XVI. deutlich. Aus einem<br />

Wettbewerb dänischer Zeichner stammte eine Serie von Karikaturen des Propheten Mohammed,<br />

die ihn lächerlich machten und verhöhnten. Was in Europa (in Deutschland erst seit wenigen Jahrzehnten)<br />

als u.U. nicht strafbar gilt, erregte heftigste Proteste fast in der gesamten islamischen Welt;<br />

anlässlich der von Extremisten aufgestachelten, durch andere Motive überlagerten Demonstrationen<br />

gab es mehr als mehr als hundert Tote, so wird berichtet. Die unüberlegte Mohammed-Kritik in der<br />

päpstlichen Rede in Regensburg muss zweifellos vor diesem Hintergrund des Karikaturenstreits und<br />

der jahrhundertelangen Herabsetzung der islamisch-arabischen Welt gesehen werden. Wiederholte<br />

Herabsetzungen können diesen Effekt verstärken. – Wie hätten z.B. die Journalisten und Leserbriefschreiber<br />

der Frankfurter Allgemeinen Zeitung bei symmetrischen Attacken auf das Christentum in<br />

der Person Jesu in der islamischen Öffentlichkeit reagiert?<br />

„Was ist heute noch heilig?“ wurde im Karikaturenstreit gefragt. Es gibt in der westlichen Welt<br />

keine Tabus mehr im ursprünglichen Sinn. Mit Tabus war das Besondere und Heilige belegt, bestimmte<br />

religiöse Handlungen und die dabei gebrauchten Objekte. Wer in den Kulturen der Südsee diese und<br />

andere spirituelle Tabus verletzte, wurde ausgestoßen, u.U. getötet. Solche Tabus gibt es heute kaum<br />

noch. Auch was allgemein als völlig unerträglich angesehen wird, z.B. Inzest mit engen Familienmitgliedern,<br />

Kannibalismus, Attentate auf höchste Würdenträger, Hostienschändungen, Satanskult, wird<br />

sozusagen strafrechtlich säkularisiert und geregelt. Politische, aber keine spirituellen Tabus waren in<br />

den Nachkriegsjahrzehnten die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als Ostgrenze und die Anerkennung<br />

der DDR, unannehmbar wären heute Karikaturen über den Terroranschlag in New York oder<br />

über die Massenvernichtungen im Konzentrationslager. Der Tabubruch Gunther von Hagens, plastinierte<br />

menschliche Organe und ganze Körper auszustellen, wurde schließlich nicht juristisch verhindert,<br />

und diese „Körperwelten“ zogen ein Millionen-Publikum an. Heute sind in der säkularisierten<br />

Welt gotteslästerliche Karikaturen, blasphemische Elemente in der Kunst, Werbung, Filmen, Theaterstücken<br />

und Musicals alltäglich geworden, zeitweilig „modern“ und lustvoll. Der Blasphemie-<br />

Paragraph ist unzulänglich angesichts dieser Herabsetzung religiöser Gefühle eines großen Teils der<br />

Bevölkerung.<br />

Liberale könnten sagen: Ein Christ muss in Demut und Glaubensstolz tragen, wenn sein Gott von<br />

Ungläubigen verspottet wird. „Segnet, die euch fluchen“. Nicht nur die Kirche darf missionieren, sie<br />

müsste akzeptieren, verneinende Geisteshaltungen zu ertragen, denn religionskritische Freigeister sollten<br />

nicht automatisch im Anschein der Blasphemie stehen. Wertkonservative würden genau hier eine<br />

zu weit gehende Permissivität als Folge des Werteverfalls sehen. Die antireligiösen Tabubrüche waren<br />

vielleicht einmal aus einer sehr ernsten Haltung der geistigen Auseinandersetzung gekommen, jetzt

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