Menschenbilder - Jochen Fahrenberg
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23 <strong>Menschenbilder</strong>: Psychologische, biologische, interkulturelle und religiöse Ansichten ( J. <strong>Fahrenberg</strong>, 2007)<br />
Erde nicht den Mittelpunkt des Weltalls bildet, und Darwin hatte die Abstammung des Menschen aus<br />
einfacheren Lebensformen erkannt.<br />
Die Psychoanalyse der verdrängten Erlebnisse und Motive ist nur möglich, wenn keine Rücksicht<br />
auf Peinlichkeiten oder auf idealisierte, realitätsferne <strong>Menschenbilder</strong> und konventionelle Moralvorstellungen<br />
genommen wird. Anstößig war, wie Freud die kindliche Sexualität und die Ödipus-<br />
Konstellation als normale Entwicklungs- und Durchgangsstadien schilderte und Neurosen als Produkte<br />
verdrängter Sexualität erklärte. Wenn Verborgenes aufgedeckt wird, sind Widerstände zu erwarten.<br />
Die Aufklärung über die unbewussten triebhaften Determinanten des Verhaltens läuft dem bürgerlichen<br />
idealisierten Menschenbild zuwider, und nüchterne Analysen können verletzend und kränkend<br />
wirken. Auch wenn Philosophen wie Arthur Schopenhauer oder Friedrich Nietzsche ähnliche Ansichten<br />
über den Menschen geäußert hatten – Freuds Menschenbild wurde mit dem Anspruch einer wissenschaftlichen<br />
Erkenntnis vorgetragen.<br />
Der aufklärerische Ansatz der Psychoanalyse wurde nur langsam erkannt: Sexualität als<br />
natürliche Eigenschaft des Menschen zu sehen und aus Geheimnistuerei zu befreien, die<br />
fundamentalen Bedingungen des psychischen Leidens und der Moral zu untersuchen, das Individuum<br />
wahrzunehmen und zu stärken, psychologische Kulturkritik und Religionskritik zu begründen.<br />
Während in den Anfängen viele Kritiker der Psychoanalyse bezweifelten, ob ein Menschenbild ohne<br />
freies und bewusstes Subjekt und ohne Gott überhaupt mit einer Ethik verbunden sein könnte, ist das<br />
heute für viele Menschen keine Frage mehr.<br />
Dass Freud als Psychologe und Psychotherapeut weder an eine unsterbliche Seele noch an einen<br />
Gott glaubte und Religion als Illusion und Massenneurose charakterisierte, war für viele unerträglich.<br />
Nicht wenige seiner Nachfolger hielten zwar zur psychotherapeutischen Methodik und bewährten<br />
Deutungsarbeit, doch war ihnen Freuds Menschenbild anstößig. Folglich distanzierten sich viele dieser<br />
Psychoanalytiker von Freuds Determinismus und Atheismus. Kritiker behaupteten, die Psychoanalyse<br />
sei zu einem Wissenschaftsglauben oder einem Religionsersatz geworden. 15<br />
Anfeindungen, Aufregung über diese „Schweinereien“ und persönliche Beleidigungen auf offener<br />
Straße haben Freud nicht aufgehalten. Es gab auch antisemitisch gefärbte Vorwürfe (wie zeitweilig<br />
sogar von C. G. Jung) und die Geringschätzung durch die meisten Psychiater seiner Zeit, wie Alfred<br />
Hoche oder Ernst Kraepelin. Erst wurde Freud ignoriert, später äußerte sich breiteste Ablehnung, auch<br />
durch die Psychologen an den Universitäten.<br />
Eine andere Resonanz fand Freud seit den 1920er Jahren bei nicht wenigen Schriftstellern, Malern<br />
und anderen Künstlern sowie in einer kulturkritisch und psychologisch interessierten Öffentlichkeit.<br />
Albert Einstein meinte: „Abgesehen von Schopenhauer gibt es für mich niemanden, der so<br />
schreiben kann oder könnte.“ Sigmund Freud hatte eine außerordentliche und alle Grenzen<br />
übersteigende Wirkung auf die geistige Welt. Thomas Mann, der in einem 1929 gehaltenen Vortrag<br />
die Stellung Freuds in der modernen Geistesgeschichte als Aufklärer gewürdigt hatte, schrieb zum 80.<br />
Geburtstag Freuds 1936: „Ein ganz auf sich selbst gestellter Geist, 'ein Mann und Ritter mit erzernem<br />
Blick' wie Nietzsche über Schopenhauer sagt, ein Denker und Forscher, der allein zu stehen wußte, ist<br />
seinen Weg gegangen und zu Wahrheiten vorgestoßen, die deshalb gefährlich erschienen, weil sie<br />
ängstlich Verdecktes enthüllten.“ Diesem Glückwunschschreiben hatten sich viele angeschlossen, die<br />
dem herrschenden Zeitgeist vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs widersprachen: Alfred Döblin,<br />
Herrmann Hesse, James Joyce, Paul Klee, Robert Musil, Pablo Picasso, Ernst Toller, Virginia Woolf,<br />
Stefan Zweig und viele andere.<br />
Wahrscheinlich waren für diese weite Verbreitung weder das gesamte Lehrgebäude der Psychoanalyse<br />
noch die methodischen Details wesentlich, sondern die Idee des Unbewussten, die Deutung von<br />
Symbolen und Träumen, die Lehre von der Verdrängung und der Sublimierung der Triebenergie in<br />
schöpferischen Leistungen – dies schien vielen Schriftstellern und Künstlern einen in der Psychologie<br />
zuvor unerreichten Erklärungswert zu haben. Die Tabubrüche und Desillusionierungen hinsichtlich<br />
Vernunft, freiem Willen, Seelenglauben, Gott und Kirche sowie die gesamte Kulturkritik waren in<br />
jenen Kreisen gewiss weniger anstößig als in der bürgerlich-konventionellen und der akademischen<br />
Welt jener Zeit.