Menschenbilder - Jochen Fahrenberg
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176 <strong>Menschenbilder</strong>: Psychologische, biologische, interkulturelle und religiöse Ansichten ( J. <strong>Fahrenberg</strong>, 2007)<br />
Zehn Gebote können es ebenfalls nicht sein, denn sie sind völlig unspezifisch, d.h. sie sind mit geringen<br />
Variationen auch in anderen Religionen zu finden. Gewöhnlich wird hier mit dem Verweis auf die<br />
Bergpredigt geantwortet: „Geht so mit den Menschen um, wie ihr selbst behandelt werden möchtet.<br />
Denn darin besteht das ganze Gesetz und die Propheten. (Matthäus 7, 12) – Aber diese Goldene Regel<br />
der Gegenseitigkeit des ethischen Handelns findet sich ebenfalls – wie schon erläutert wird – in allen<br />
großen Religionen und Morallehren.<br />
Prinzipien wie Gottvertrauen, Verantwortung des Einzelnen für sein Tun, Mitgefühl für das Leiden<br />
anderer, Ausrichtung auf die Ewigkeit sind keine typischen Merkmale der christlichen Ethik, sondern<br />
weit verbreitet. Theologisch schwierig wird es, wenn zum Beispiel gefragt würde: Wie unterscheidet<br />
sich die Vergebungsbereitschaft des christlichen Gottes von der Barmherzigkeit Allahs? Entsprechen<br />
christliche Nächstenliebe und Caritas nicht der fundamentalen Pflicht der Muslime zur sozialen<br />
Hilfe für die Armen? Wie steht es um die Rechtfertigung von „gerechten“ Kriegen oder Todesstrafen<br />
aus christlicher Moraltheologie im Vergleich zum absoluten Tötungsverbot im Theravada-<br />
Buddhismus? Liegt etwa das Besondere in der Radikalität der Forderungen nach Gottes- und Nächstenliebe,<br />
im Vergeben, Verzichten ohne Gegenleistung, in der Feindesliebe? Aber welche theologische<br />
und psychologische Funktion haben in der christlichen Ethik die drastischen Verbote, die Strafen<br />
und die Verdammungsurteile sowie die apokalyptischen Erwartungen? Weshalb hat Jesus wiederholt –<br />
nicht nur in der Bergpredigt – die Anders-Gläubigen zurückgewiesen und verdammt?<br />
Gibt es charakteristische christliche Werte und Gebote, die in keiner anderen Religion anzutreffen<br />
sind und die sich ohne Einschränkung auf alle Menschen beziehen, d.h. nicht allein auf die Glaubensangehörigen?<br />
Ist es die Nächstenliebe wie sie im Gleichnis vom barmherzigen Samariter ausgedrückt<br />
ist: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan!“ (Matthäus<br />
25, 40)? „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ (Matthäus 22, 39). Jesus radikalisiert<br />
dieses Gebot durch das Gebot der Feindesliebe und das Gleichnis, beim Schlag auf die eine Backe<br />
auch die andere Backe darzubieten (Matthäus 5, 39-44). Diese radikal menschenfreundliche Haltung<br />
ist das christliche Ideal.<br />
Jesus hat, wie u.a. Hans Küng eingehend erläutert, einen neuen Freiheitsbegriff geschaffen, nach<br />
dem sogar bestehende Gesetze – aus der Idee einer höheren Freiheit –gebrochen werden können und<br />
müssen, wenn dies durch die Gottesliebe und Nächstenliebe ethisch gefordert ist. In seinem Kommentar<br />
zur Ethik des Islam hebt Küng einen wesentlichen Unterschied beider Religionen hervor. Während<br />
der Muslim zum unbedingten Gehorsam gegenüber den Korangesetzen verpflichtet sei, würde es die<br />
durch Jesus von Nazareth gelehrte Freiheit gestatten, u.U. Gesetzesüberschreitungen zu begehen,<br />
wenn dies im Geiste Gottes geschieht. Die Unterscheidung von Verbotenem und Erlaubtem sei weniger<br />
klar festgelegt als im Koran. – Diese dialektische Sicht der menschlichen Freiheit, zwischen Gehorsam<br />
und eigener Verantwortung kann als eine relative Autonomie des Menschen verstanden werden,<br />
lässt jedoch einen moraltheologischen und individuellen Interpretationsspielraum, z.B. bestimmte<br />
Untaten, sogar Tötungen und Kriege, als im wahren Willen Gottes liegend religiös zu rechtfertigen.<br />
Oft wird behauptet, dass der Grundsatz der Gleichheit aller Menschen eine biblische Grundlage habe.<br />
Dabei wird übersehen, dass dieses Gleichheitsprinzip nur für die Gläubigen zu gelten scheint. Wenn<br />
Paulus schreibt, Juden und Christen, Sklaven und Freie würden durch die Taufe gleich, beinhaltet dies<br />
– wie in der Kirchengeschichte systematisch praktiziert – die ethische Ausgrenzung aller Andersgläubigen.<br />
Andernfalls hätte es ja in der Neuzeit nicht der Aufklärung und des Freiheitskampfes für<br />
Gleichheit und Freiheit aller Menschen bedurft. Die Redewendung von den christlichen Werten<br />
scheint bewusst offen zu lassen, ob damit auch all jene Menschenrechte, die sich nicht aus der Bibel<br />
ableiten lassen, u.a. die Gleichheit aller Menschen, Demokratieprinzip, Glaubensfreiheit, gemeint sind.<br />
Der im interreligiösen Dialog sehr bewanderte Hans Küng äußert sich nur sehr vorsichtig zu der<br />
Frage, welche ethischen Normen spezifisch für die christliche Lehre sein könnten:<br />
„Auch in der Ethik sucht man vergeblich nach dem unterscheidend Christlichen, wenn man es abstrakt<br />
in irgendeiner Idee oder einem Grundsatz, wenn man es einfach in irgendeiner Gesinnung, einem<br />
Sinnhorizont, einer neuen Disposition oder Motivation sucht. Handeln aus ‚Liebe’ etwa, oder in<br />
‚Freiheit’, Handeln im Horizont einer ‚Schöpfung’ oder ‚Vollendung’ – das können schließlich auch<br />
andere, Juden, Moslems, Humanisten verschiedenster Art. Das Kriterium des Christlichen, das unter-