Menschenbilder - Jochen Fahrenberg
Menschenbilder - Jochen Fahrenberg
Menschenbilder - Jochen Fahrenberg
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
85 <strong>Menschenbilder</strong>: Psychologische, biologische, interkulturelle und religiöse Ansichten ( J. <strong>Fahrenberg</strong>, 2007)<br />
11 Das lernende Gehirn und nicht ein spekulatives geistiges<br />
Wesen bestimmt den Menschen nach seiner Natur<br />
Die neurobiologische Perspektive<br />
Das menschliche Gehirn besteht nach neueren Schätzungen aus zehn bis hundert Milliarden Nervenzellen<br />
mit ca. 100 Billionen Synapsen. Jede Nervenzelle ist direkt mit Hunderten oder Tausenden anderer<br />
verbunden und steht über sehr wenige Umschaltstationen mit allen anderen in Kontakt. Die Signalübertragung<br />
geschieht lokal durch elektrochemische Prozesse an den Synapsenspalten, und die<br />
Erregungs- und Hemmungsprozesse laufen in räumlich bzw. funktionell gegliederten Netzwerken ab.<br />
Es sind unüberschaubar viele parallele Verbindungen und Rückkopplungen der Konnektionen.<br />
„Das Gehirn ist somit prinzipiell anders aufgebaut als jeder Computer, und auch die Verarbeitungsprinzipien<br />
sind grundsätzlich von Algorithmen und deren Implementierung als Programme in Computern<br />
verschieden. Eine Simulation oder explizite Modellierung von menschlichem Denken, Wahrnehmen,<br />
Fühlen, Entscheiden, Erinnern oder Handeln ist in weiter Ferne, sollte es überhaupt je erreicht<br />
werden. Allein aus der Architektur des Gehirns leitet sich die Feststellung ab, dass ein Wahrnehmen<br />
ohne ein gleichzeitiges Erinnern und gefühlsmäßiges Bewerten, oder ein Erinnern ohne ein gefühlsmäßiges<br />
Bewerten und Wahrnehmen, oder ein Gefühl ohne einen Erinnerungsbezug und eine wahrnehmungsmäßige<br />
Repräsentation, nicht möglich ist. Erst in der retrospektiven Reflexion „entdecken“<br />
oder ‚erfinden’ wir vermeintlich unabhängige phänomenale Bereiche, indem wir Begriffe einsetzen<br />
wie Wahrnehmung, Erinnerung oder Gefühl. Im gegenwärtigen Vollzug des Erlebens gibt es diese<br />
Trennung nicht.“ (Pöppel, Kosmos im Kopf: Wie das Gehirn funktioniert, 2001). 1<br />
„Die neuropsychologischen Befunde und vor allem die entwicklungsbiologischen Erkenntnisse belegen<br />
eindrucksvoll, dass mentale Funktionen aufs engste mit der Funktion der Nervennetze verbunden<br />
sind. Lässt sich doch bei der Erforschung der Hirnentwicklung Schritt für Schritt nachvollziehen, wie<br />
aus der Aggregation einfacher Grundbausteine der Materie zunehmend komplexere Strukturen entstehen<br />
und wie der jeweils erreichte Komplexitätsgrad des Systems mit der Komplexität der je erbrachten<br />
Leistung zusammenhängt. Die Entwicklung von Gehirnen stellt sich als stetig und im Rahmen der<br />
bekannten Naturgesetze erklärbar dar.“ (Singer, Der Beobachter im Gehirn, 2002). 2<br />
Die Fortschritte der Neurowissenschaften sind beeindruckend. Sie wurden durch spezielle und selektive<br />
Beobachtungsmethoden erreicht. Die weit verbreitete Methodik des oberflächlichen Elektroenzephalogramms<br />
EEG kann die hirnelektrischen Veränderungen nur in der allerobersten Rinde des Neokortex<br />
mit einer vielfach unzureichenden räumlichen Auflösung und in der Regel ohne Rücksicht auf<br />
die sehr unterschiedliche Formung des Gehirns und die Lokalisation der darunter liegenden Gehirnstrukturen<br />
registrieren. Hier sind die bildgebenden Verfahren überlegen, da sie eine Aktivitätsänderung<br />
auch in tiefen Strukturen zeigen können, genauer gesagt, die lokalen Unterschiede in der Sauerstoff-Sättigung<br />
des Hämoglobins im Blut, die als Indikator der Stoffwechselaktivität dient. Die funktionelle<br />
Magnetresonanzspektroskopie fMRI ist mit sehr vielen technischen Problemen und Unsicherheiten<br />
behaftet. Bis heute ist es unmöglich, gleichzeitig die dynamischen Steuerungen und Rückkopplungen<br />
der wesentlichen Strukturen (Kerne und Schleifensysteme) zu registrieren oder auch nur näherungsweise<br />
die zugehörigen Muster der multiplen Neurotransmitter an den Synapsen zu erfassen. Die<br />
Verallgemeinerungen der Befunde, z.B. der fMRI-Befunde über emotionale Vorgänge, auf das menschliche<br />
Verhalten im Allgemeinen, sind wegen der extremen Künstlichkeit der Untersuchungsbedingungen<br />
in der „Röhre“ immer noch sehr fragwürdig. Die gewiss sehr beeindruckenden, und vor wenigen<br />
Jahren noch kaum vorstellbaren Fortschritte dieser Hirnforschung sind folglich in vieler Hinsicht<br />
vorläufig und werden noch oft revidiert werden müssen.<br />
Selbst wenn die Informationsverarbeitung im Gehirn wahrscheinlich nicht nach fundamental anderen<br />
Prinzipien der Repräsentation, der Algorithmisierung und Verrechnung abläuft, wird das sich<br />
selbst entwickelnde und selbst-referentielle Gehirn nicht leicht in einem Computermodell nachzubil-