Menschenbilder - Jochen Fahrenberg
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241 <strong>Menschenbilder</strong>: Psychologische, biologische, interkulturelle und religiöse Ansichten ( J. <strong>Fahrenberg</strong>, 2007)<br />
Relevanzbehauptung<br />
Gerade bei Ärzten, Psychotherapeuten oder auch Richtern könnten bestimmte Annahmen über den<br />
Menschen zu Konsequenzen für die Berufspraxis führen. Deshalb wurde die bereits zitierte Umfrage<br />
bei den 563 Studierenden der Psychologie genutzt, um deren Erwartungen zu erkunden. Nachdem die<br />
im Kapitel 18 zitierten Fragen zum Gehirn-Bewusstsein-Problem und zum freien Willen beantwortet<br />
waren, wurde gefragt:<br />
Werden sich diese Überzeugungen hinsichtlich Gehirn und Bewusstsein,<br />
Willensfreiheit oder Determiniertheit auf Entscheidun-<br />
gen in der beruflichen Praxis auswirken?<br />
nein kaum vielleicht bestimmt<br />
bei Ärzten/Ärztinnen 6 24 39 31<br />
bei Psychotherapeuten/Psychotherapeutinnen 1 5 28 66<br />
bei Richtern/Richterinnen 6 14 35 45<br />
Diese sehr allgemein gehaltene Frage wird, wie die Prozentangaben zeigen, von der Mehrheit der Studierenden<br />
der Psychologie bejaht. Dabei wird für die Psychotherapeuten prozentual eine höhere Relevanz<br />
vermutet als für Ärzte und Richter.<br />
Beeinflussen tatsächlich die philosophischen Vorentscheidungen hinsichtlich Gehirn und Bewusstsein,<br />
Willensfreiheit oder Determiniertheit die Auswahl der Methoden und Erklärungsmodelle in<br />
der Psychologie? Der mögliche Zusammenhang zwischen den <strong>Menschenbilder</strong>n und den praktischen<br />
Entscheidungen von Psychotherapeuten ist zwar gelegentlich diskutiert worden, doch gibt es bisher<br />
keine geeignete empirische Untersuchung. Ein Projekt dieser Art wäre auch nicht leicht zu verwirklichen.<br />
Die Mehrzahl der 42 Ärzte und Psychotherapeuten, die von Kornelia Wider interviewt wurden,<br />
teilte zwar die Relevanzbehauptung im Hinblick auf ihre eigene Praxis. Doch die vermuteten Konsequenzen<br />
können höchstens in konkreten Entscheidungssituationen genauer evaluiert werden, wenn<br />
Informationen, Kriterien und Urteilsprozesse möglichst standardisiert und transparent sind. Vielfach,<br />
so meinten die interviewten Ärzte und Psychotherapeuten, stehen nicht solche theoretischen Überzeugungen,<br />
sondern praktische Notwendigkeiten und klinische Details im Vordergrund. 1<br />
<strong>Menschenbilder</strong> bekannter Psychologen und Philosophen<br />
Wenn es an empirischen Untersuchungen mangelt, könnte das auch durch wissenschaftstheoretische<br />
Positionen begründet sein: Die persönliche Weltanschauung soll aus der Forschung und Praxis ausgeklammert<br />
werden. Dies ist eine in der Wissenschaft verbreitete Auffassung. Außerdem betreffen viele<br />
dieser Fragen Themen, über die im Alltag selten gesprochen wird. Es ist die Privatsphäre der Weltanschauung.<br />
Für diese Vermutung spricht eine Inhaltsanalyse der publizierten Selbstdarstellungen von<br />
63 Psychologen bzw. Psychotherapeuten sowie 23 Philosophen. Diese Serie wurde von dem Psychotherapeuten<br />
Ludwig Pongratz herausgegeben und sie hat den Vorteil, dass es einheitliche „Auftragsarbeiten“<br />
waren. Von einer Selbstdarstellung war hier außer der Schilderung des akademischen Berufslebens<br />
auch eine innere Biographie, d.h. zumindest Hinweise auf Erziehungseinflüsse, Menschenbild<br />
und Weltanschauung, zu erwarten. 2<br />
Sollten nicht gerade Psychologen und Psychotherapeuten ein Interesse an möglichen Beziehungen<br />
zwischen ihrem Menschenbild, ihren Erziehungseinflüssen, ihrer Berufswahl und Berufspraxis<br />
haben? Ist das Erkenne dich selbst! nicht eines der Motive ihrer Berufswahl? Gerade dieser Personenkreis<br />
könnte vielleicht eher nachvollziehen, wie das Denken und die wissenschaftlichen Ziele von<br />
philosophisch-weltanschaulichen Ausgangspositionen beeinflusst wurden. Der Philosoph Carl Friedrich<br />
von Weizsäcker begann: „Die Aufforderung zu dieser Selbstdarstellung bedeutet wohl, dass der<br />
Verfasser die philosophischen Meinungen, zu denen er gelangt ist, nicht in abstracto darstellt – das<br />
wird er, wenn er es kann, anderwärts getan haben oder tun – sondern im Spiegelbild der Weise, wie er<br />
selbst zu ihnen gekommen ist. Haben wir unsere Philosophie gelernt, gefunden oder als das entdeckt,<br />
was wir in gewisser Weise immer gewusst haben?“ 3<br />
Die meisten dieser Autobiographien enthalten natürlich Informationen über Elternhaus und Erziehungseinflüsse,<br />
über Ausbildung, Berufsleben u.a. Bei weniger als der Hälfte der Autoren gab es