Menschenbilder - Jochen Fahrenberg
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103 <strong>Menschenbilder</strong>: Psychologische, biologische, interkulturelle und religiöse Ansichten ( J. <strong>Fahrenberg</strong>, 2007)<br />
irritierend, für andere Menschen kann die neue Sicht befreiend sein. Wenn wir Menschen anderer Gesellschaften<br />
und Kulturen begegnen, erfahren wir ihre Lebenswelt, ihre Werte und Überzeugungen<br />
(und nicht nur die touristischen Ziele oder kulinarischen Eigenarten). Dadurch lernen wir es, mit anderen<br />
Augen zu sehen. Auch auf diesem Gebiet ist die Fähigkeit zur Perspektiven-Übernahme eine fundamentale<br />
Voraussetzung beim Lösen bestimmter kognitiver und sozialer Aufgaben, sie ermöglicht<br />
die Toleranz der kulturellen, weltanschaulichen und religiösen Vielfalt. 8<br />
Perspektiven-Übernahme<br />
Zur Perspektiven-Übernahme fähig und bereit zu sein, wird für das vertiefte Verstehen und für die<br />
Toleranz anderer Überzeugungen wesentlich sein, sobald mehr als nur eine äußerliche Koexistenz<br />
angestrebt wird. Sich in einen anderen Menschen hineinzuversetzen, kann entweder durch einen gedanklichen<br />
Sprung oder als einfühlendes Nacherleben geschehen. Wenn sich diese Funktionen miteinander<br />
verbinden, entsteht die Empathie: das Wissen, was und wie ein anderer fühlt und, insbesondere<br />
bei Leidenden, ein entsprechendes Reagieren, das in Trost, Hilfe u.a. besteht. Dieses Mitleid hat eine<br />
emphatische, unmittelbare und eine einsichtig vermittelte Komponente. Im Unterschied hierzu muss,<br />
um eine soziale Rolle ausfüllen zu können, ein genaues Wissen über das für eine Situation passende<br />
Verhaltensmuster vorhanden sein. Der Begriff Perspektiven-Übernahme wurde ursprünglich von dem<br />
Entwicklungspsychologen Jean Piaget gebraucht, wenn ein Kind lernt, sich die Ansicht eines Dinges<br />
von einer anderen Seite aus vorzustellen. Dieser räumlich-zeitliche Perspektivenwechsel wurde zu<br />
einer übergeordneten und umfassenden (meta-kognitiven) Fähigkeit verallgemeinert und überlappt<br />
dann mit dem, was früher in der psychologischen Methodenlehre mit dem einfühlenden und nachvollziehenden<br />
Verstehen gemeint war.<br />
Die Fähigkeit zur Perspektiven-Übernahme ermöglicht es wahrscheinlich, andere Menschen besser<br />
zu beurteilen, und erleichtert es vielleicht, Texte besonders differenziert zu interpretieren. Eventuell<br />
folgt aus der Fähigkeit der Perspektiven-Übernahme auch eine höhere Kompetenz für erfolgreiche<br />
Konfliktlösungen? Deshalb ist es interessant, ob z.B. Personen, die sich selber eine solche Fähigkeit<br />
zusprechen, tatsächlich empirisch zutreffendere Aussagen machen können. Diese Selbsteinschätzung<br />
wird in einem Fragebogen erkundet; z.B. „Manchmal versuche ich, meine Freunde besser dadurch<br />
zu verstehen, dass ich mir vorstelle, wie sich die Dinge aus ihrer Sicht darstellen.“ Als der Psychologe<br />
Peter Wilhelm anschließend prüfte, ob Partner sich wechselseitig hinsichtlich ihres Befindens<br />
einschätzen können, waren die von ihrer Fähigkeit Überzeugten nicht nennenswert besser. 9 Die subjektive<br />
Meinung, über eine ausgeprägte soziale Sensibilität zu verfügen, ist also allein noch keine zuverlässige<br />
Information.<br />
Eine vertiefte Psychologie der <strong>Menschenbilder</strong> wird kaum anders möglich sein als durch eine<br />
zeitweilige Perspektiven-Übernahme, um die Grundüberzeugung eines anderen Menschen nachzuvollziehen<br />
– auch wenn die innere Gewissheit unerreichbar bleiben mag. Die Strategie der Perspektiven-<br />
Übernahme entspricht eher dem Abwägen von Hypothese und Gegenhypothese im wissenschaftlichen<br />
Denken, dem Pro und Kontra einer akademischen Disputation. Es gilt, die Thesen zu begreifen, sie<br />
vielleicht zu widerlegen oder eine Verbindung, eine Synthese der Gegensätze, zu suchen. Anstelle des<br />
Beharrens auf Wahrheit, Durchsetzung und einer Abwertung der Gegenposition könnte hier ein „Verhandlungsmodell“<br />
stehen.<br />
Wertordnungen und Wertkonflikte<br />
Aus konservativer Sicht wird mit bedenkenswerten Gründen für den grundsätzlichen Erhalt der traditionellen<br />
Wertordnung argumentiert, wobei gewichtige Unterschiede zwischen den sozialkonservativen<br />
und wirtschaftkonservativen Programmen und den erziehungskonservativen <strong>Menschenbilder</strong>n<br />
bestehen. Auch in den Parteiprogrammen tauchen viele der gängigen Begriffe auf: Gemeinsinn, Sozialstaat,<br />
Eigenverantwortung, Solidarität, kooperativer Individualismus. Wenn von einer christlichen<br />
Wertordnung oder wenn von einem Verfall der Werte gesprochen wird, bleibt immer zu fragen und zu<br />
sagen, welche einzelnen Werte überhaupt gemeint sind.<br />
Die Redeweise vom christlich-abendländischen Denken verdeckt, wie viel des intellektuellen<br />
Reichtums der Antike erst mühselig, z.T. nur durch die muslimischen Vermittler, zurückgewonnen<br />
und in einem extrem schwierigen Prozess als Freiheit des Glaubens, als Freiheit der Wissenschaft und<br />
als Freiheit von Denkverboten gegen das Dogma und die Macht der Kirchen erstritten werden musste.