Menschenbilder - Jochen Fahrenberg
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71 <strong>Menschenbilder</strong>: Psychologische, biologische, interkulturelle und religiöse Ansichten ( J. <strong>Fahrenberg</strong>, 2007)<br />
einzelnen Eigenschaften oder bei bestimmten Krankheiten? Heute kann kein Zweifel mehr bestehen,<br />
dass solche genetischen Einflüsse, allerdings in jeweils sehr unterschiedlichem Ausmaß, vorhanden<br />
sind. 6 Aus der differentiellen Psychologie stammen zahlreiche, methodisch gut kontrollierte Untersuchungen<br />
an gemeinsam oder getrennt aufgewachsenen Zwillingen, an genetisch verwandten Kindern<br />
und Adoptivkindern. Die Ergebnisse belegen die oft unterschätzten genetischen Einflüsse auf viele<br />
Fähigkeiten und Persönlichkeitseigenschaften des Menschen. Wenn dieser Anteil prozentual angegeben<br />
wird, z.B. hinsichtlich der Intelligenz mit etwa 50 Prozent, ist das problematisch, denn solche<br />
statistischen Indizes müssen immer auf eine bestimmte Untersuchungsgruppe und auf bestimmte Tests<br />
bezogen und damit relativiert werden.<br />
Ein Vorwurf lautet, aus biologischer Sicht könnten die Unterschiede zwischen Menschen als naturgegeben<br />
und unabänderlich angesehen werden und dazu benutzt werden, um bestehende Diskriminierungen<br />
zu rechtfertigen. Zweifellos gibt es solche genetischen Unterschiede zwischen Menschen.<br />
Dies gilt z.B. für das Aussehen des Menschen, für Begabungen hinsichtlich Sport oder Musik, für<br />
Intelligenzleistungen und Temperamentsunterschiede, Krankheitsdispositionen und Lebenserwartung.<br />
An der Ausformung dieser genetischen Dispositionen in der individuellen Entwicklung sind in unterschiedlichem<br />
Maße Umweltfaktoren beteiligt, wie die Anlage-Umwelt-Forschung zeigte. Es wäre ein<br />
Denkfehler, aus einem statistisch gesehen vielleicht relativ geringen Anteil von Umweltfaktoren zwingend<br />
ableiten zu wollen, jede soziale und pädagogische Förderung sei deshalb nutzlos. Gerade die<br />
neuere Gehirn- und Verhaltensforschung liefert wichtige Befunde, wie sich die frühen Lebensbedingungen<br />
und Lernmöglichkeiten positiv auf die funktionelle und sogar auf die strukturelle Entwicklung<br />
des Gehirns auswirken (Kapitel 11 Neurobiologische Perspektive).<br />
Die genetisch gesteuerte Evolution produzierte nicht feste Eigenschaften oder gar Wertordnungen,<br />
sondern ließ das Gehirn entstehen, in dem sich solche Eigenschaften im Rahmen der genetisch<br />
bestimmten Grenzen ausbilden können. Zwischen dem genetischen Potenzial und dessen hinzukommender<br />
(epigenetischer) Formung durch Umweltbedingungen und Lernen bestehen komplizierte und<br />
noch kaum aufgeklärte Wechselbeziehungen.<br />
In den populären Kontroversen werden die Positionen heute oft überspitzt, wenn ein genetischer<br />
Determinismus vorgeworfen wird oder umgekehrt ein falscher Erziehungs- und Lern-Optimismus,<br />
demzufolge Neugeborene ein unbeschriebenes Blatt (tabula-rasa-Prinzip) wären. Der Warnung vor<br />
biologischer „Naturalisierung“ des eigentlich Menschlichen steht der Vorwurf einer Ignoranz der offensichtlichen<br />
biologischen Basis gegenüber. Dieser Streit ist übrigens schon viel früher und zum Teil<br />
differenzierter in der psychologischen Forschung zum Anlage-Umwelt-Problem geführt worden. Die<br />
Einflüsse der Erziehung bzw. des individuellen Lernens dürfen nicht überschätzt oder unterschätzt<br />
werden und müssen je nach Eigenschaft und Verhaltensbereich anders abgewogen werden.<br />
Erst in den letzten Jahrzehnten begann sich über die Verhaltensgenetik hinaus eine Evolutionspsychologie<br />
herauszubilden. In dieser Forschungsrichtung wird genauer nach der adaptiven Funktion<br />
von Persönlichkeitsunterschieden und Verhaltensweisen als evolutionären Strategien gefragt, nach<br />
genetischen Grundlagen des Sozialverhaltens und nach der Bedeutung der natürlichen Auslese für die<br />
Formung des Sozialverhaltens einschließlich der Eltern-Kind-Beziehung. Das Vorbild ist die inzwischen<br />
durch viele Sachbücher allgemein bekannt gewordene Soziobiologie. Auch die Entwicklung<br />
kultureller Vielfalt hat natürliche, verhaltensbiologische Grundlagen. 7<br />
Sozial-Darwinismus und Soziologismus<br />
Das soziobiologische Menschenbild fand eine scharfe Kritik, die sich häufig nicht auf die wissenschaftlichen<br />
Argumente, sondern auf die möglichen Konsequenzen richtete. Die Behauptung einer<br />
genetischen Bestimmung des menschlichen Verhaltens würde den Sexismus, Rassismus, Sozialdarwinismus,<br />
Imperialismus usw. rechtfertigen lassen. Vor einer Überbetonung der biologischen Perspektive<br />
müsse gewarnt werden. Von hier aus bestünde die Gefahr von Gentechnik und Manipulation des<br />
Menschen, von Menschenzüchtung und Eugenik.<br />
Mit Sozial-Darwinismus ist die – nicht selten sehr vereinfachte oder verzerrte – Übertragung des<br />
biologischen Prinzips vom Überleben des Stärkeren (genauer: des hinsichtlich des Reproduktionserfolgs<br />
am besten Angepassten) auf die Gesellschaft gemeint. Wenn der Sozial-Darwinismus ursprünglich<br />
von der egoistischen Natur der Selbsterhaltung ausging, hat sich mit dem zunehmenden Wissen