Menschenbilder - Jochen Fahrenberg
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199 <strong>Menschenbilder</strong>: Psychologische, biologische, interkulturelle und religiöse Ansichten ( J. <strong>Fahrenberg</strong>, 2007)<br />
ohne Metaphysik auskäme, dass etwas vor und hinter der rational erfassbaren Welt liegt – was er aber<br />
nicht benennen möchte. 3<br />
Prägnanter ist eine Erklärung amerikanischer Wissenschaftler. Im Hinblick auf die Forderung<br />
von Kreationisten, ihre Lehre an Schulen gleichberechtigt lehren zu dürfen, hatte der Rat der amerikanischen<br />
Academy of Sciences 1981 erklärt: „Religion und Wissenschaft sind separate und sich ausschließende<br />
Bereiche des menschlichen Denkens, und ihre gemeinsame Darstellung im gleichen Kontext<br />
gibt dazu Anlass, dass man sowohl die wissenschaftlichen Theorien als auch die religiösen Überzeugungen<br />
falsch versteht.“ 4<br />
Kants Kritik der reinen Vernunft bezieht sich gerade auf die Grenzen der Vernunft und die notwendige<br />
Aufklärung in Religionsdingen. Deshalb ist es in diesem Zusammenhang höchst missverständlich, von<br />
zwei Quellen des Wissens zu sprechen und damit den Eindruck zu fördern, dass diese irgendwie<br />
gleichwertig wären. Solche Missverständnisse drohen, wenn prägnante wissenschaftstheoretische und<br />
notwendige psychologische Differenzierungen fehlen: zwischen der subjektiven Gewissheit und dem<br />
empirisch Prüfbaren, also dem, was objektiv (inter-subjektiv) an der Erfahrung scheitern kann. Wissenschaftstheoretisch<br />
informierte Wissenschaftler werden heute keinen unbedingten Wahrheitsanspruch,<br />
d.h. eine von möglichen Fehlern und Irrtümern freie Theorie, behaupten, sondern die Unabgeschlossenheit<br />
und die ständige Revisionsfähigkeit der Erfahrungswissenschaften betonen. Anderes gilt<br />
für das innere und unwiderlegbare religiöse Erleben oder für die abgeschlossenen, subjektiv gewissen<br />
und dogmatisch absolut wahren Glaubenssätze. Die kritisch-rationale Prüfung von Hypothesen und<br />
deren Revision angesichts neuer Erfahrungen sind grundverschieden von der Glaubenslehre, die sich<br />
auf Transzendentes, auf Offenbarung, ein Dogma, eine unfehlbare Auslegung beruft.<br />
Die subjektive Gewissheit des Gläubigen ist nicht jedem Menschen kommunizierbar, während<br />
Erfahrungswissenschaftler, wenn sie nur genügend lange miteinander forschen und diskutieren würden,<br />
sich angesichts ihrer gemeinsamen Ergebnisse schrittweise einigen können müssten – wie dies zu<br />
vielen technischen und naturwissenschaftlichen Sachverhalten geschieht, aber noch nicht überall möglich<br />
ist. Regelmäßigkeit, Zuverlässigkeit und Vorhersageleistung dieses empirischen Wissens sind<br />
wichtige Maßstäbe.<br />
Kontroversen über Glauben und Vernunft tauchen fast regelmäßig in bestimmten Vortragsreihen<br />
und Zeitschriften auf, wobei von theologischer Seite nicht selten behauptet wird, dass die Nicht-<br />
Gläubigen statt des wahren Glaubens dann nur eine Art säkularer Ersatzreligion oder eine oberflächliche<br />
Weltsicht ausbilden würden. 5<br />
Zum Thema Wahrheit gab es den Versuch einer Diskussion zwischen Kardinal Ratzinger und<br />
dem Philosophen Jürgen Habermas. Dem erneut bekräftigten Anspruch des christlichen Glaubens, die<br />
Wahrheit über den Menschen und Gott zu wissen, steht die Skepsis gegenüber, der zufolge auch Religionen<br />
ihre Grenzen haben. Ratzingers zentrales Anliegen ist es, die innere Vernünftigkeit des christlichen<br />
Glaubens aufzuzeigen und sich gegen den modernen Relativismus zu wenden. Für ihn sind<br />
Glauben und Vernunft deckungsgleich in der Erkenntnis der Wahrheit. Als besonders schlimme Anmaßung<br />
des Menschen, als Hybris, nennt Ratzinger wiederholt die Gesetzgebung über Schwangerschaftsunterbrechung<br />
und über gleichgeschlechtliche Partnerschaften. Das göttliche Gesetz ist dem<br />
menschlichen Gesetz übergeordnet, denn es ist durch den Glauben und durch die Vernunft zugleich als<br />
wahr begründet.<br />
Habermas sprach sich für eine Rehabilitierung der Religion und eine Selbstrelativierung des<br />
„szientistischen Säkularismus“ bzw. der „Naturalisierung des Geistes“ aus. Er meint damit ein Menschenbild,<br />
das sich ausschließlich auf die biologische Evolutionslehre und Neurophysiologie stützt und<br />
dadurch unser personales Selbstverständnis von den sozialen Zusammenhängen trennt. 6 Habermas<br />
würdigte die Bedeutung religiöser Wahrheitsfindung: säkulare und religiöse Bürger könnten wechselseitig<br />
voneinander lernen. Doch die religiösen Überzeugungen bedürften einer „säkularen Übersetzung“,<br />
damit ein friedliches Zusammenleben von säkularen und religiösen Bürgern in der modernen<br />
Gesellschaft möglich sei. – Habermas’ Vorstellungen von herrschaftsfreier Kommunikation und<br />
Emanzipation betreffen gerade dieses Thema, doch blieb offen, wie hier dem absoluten Wahrheitsanspruch<br />
des Glaubens begegnet werden sollte.