Menschenbilder - Jochen Fahrenberg
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188 <strong>Menschenbilder</strong>: Psychologische, biologische, interkulturelle und religiöse Ansichten ( J. <strong>Fahrenberg</strong>, 2007)<br />
21 Aufklärung des Menschen über die „selbst verschuldete<br />
Unmündigkeit“<br />
Was heißt Aufklärung?<br />
Unübertrefflich sind Immanuel Kants Erläuterungen:<br />
„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit<br />
ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet<br />
ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern<br />
der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere<br />
aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.<br />
Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie<br />
die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen (naturaliter maiorennes), dennoch gerne zeitlebens<br />
unmündig bleiben; und warum es Anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen.<br />
Es ist so bequem, unmündig zu sein.<br />
Wenn denn nun gefragt wird: Leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter? so ist die Antwort:<br />
Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung. Daß die Menschen, wie die Sachen jetzt stehen, im<br />
Ganzen genommen, schon imstande wären, oder darin auch nur gesetzt werden könnten, in Religionsdingen<br />
sich ihres eigenen Verstandes ohne Leitung eines Anderen sicher und gut zu bedienen, daran<br />
fehlt noch sehr viel.“ (Kant, 1784) 1<br />
Aufklärung bedeutet für Kant keine völlige Abkehr vom Gottesglauben, doch ist es nicht mehr der<br />
Gott der christlichen Offenbarung, sondern ein abstraktes Postulat aus dem Vernunftgesetz der Moral.<br />
Gott wird nicht als reales Sein verstanden, sondern die Vorstellung von Gott ist dazu da, um „jenen<br />
Gesetzen Effekt zu geben“ 2 Aufklärung ist Mündigkeit des Menschen, das eigene Urteilsvermögen zu<br />
entwickeln und einzusetzen. Damit ist eine Befreiung von bisherigen Denkgewohnheiten verbunden<br />
und die Bereitschaft, kritische Fragen zu stellen: an alle Lehrmeinungen und Vormünder, auch an die<br />
Vernunft selber, um deren Grenzen zu erkennen. Sich nur von den Prinzipien dieser kritischen Vernunft<br />
leiten zu lassen, setzt notwendig eine Freiheit des Denkens, Eigenständigkeit und Mut voraus.<br />
Konflikte um Aufklärung und Autonomie scheinen zur Wesensbestimmung des Menschen zu gehören.<br />
Zwei bekannte Mythen kreisen um diese Idee. In der biblischen Geschichte vom Sündenfall<br />
wurde Erkenntnisstreben als Ungehorsam unerbittlich bestraft. Adam und Eva übertraten das göttliche<br />
Gebot, aßen Früchte vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse und wurden wegen dieses Sündenfalls<br />
aus dem Paradies vertrieben. Dieser Ungehorsam wirkt nach katholischer Lehre bis heute auf alle<br />
Menschen als Erbsünde nach. Im griechischen Mythos wurde der Titan Prometheus, der Vorausdenkende,<br />
an einen Felsen angeschmiedet und vom herrschenden Gott Zeus durch größte Qualen bestraft,<br />
weil er ungehorsam war und den Menschen das Feuer und alles Wissen brachte. In beiden Mythen<br />
wird das Thema Erkenntnis und Wissen mit dem Thema Ungehorsam und harter und qualvoller Strafe<br />
durch Vertreibung aus dem Paradies bzw. durch die Übel aus Pandoras Büchse eng verknüpft, also bis<br />
in alle Ewigkeit bestraft. Demnach ist Erkenntnis nur gegen mächtigste äußere und innere Widerstände<br />
zu erreichen – auf dem Wege zur vollen Autonomie des Menschen. Die Neugier, Verborgenes wissen<br />
zu wollen, ist ein basales psychologisches Motiv der Menschen.<br />
Auch in anderen religiösen Traditionen, Mythen und Märchen werden die strikten Verbote der<br />
Götter geschildert, Wissen Preis zu geben und Geheimnisse aufzulösen. Götter und andere Machthaber<br />
schränken das selbständige und eigenmächtige Denken der von ihnen geschaffenen oder geleiteten<br />
Menschen ein. Wollen sie die Menschen vor den möglichen schädlichen Folgen des Wissens bewahren<br />
oder befürchten sie ihrerseits die Folgen des unabhängigen Denkens und Handelns der Menschen?<br />
Andererseits hat der biblische Gott den Menschen die Freiheit gegeben, zwischen Gut und Böse zu<br />
wählen, um dann Heil oder Verdammnis folgen zu lassen.<br />
Als moderne Begriffe für dieses kritische Denken sind hier – teils mit etwas anderen Akzenten –<br />
u.a. die geistige Emanzipation, die kritische Reflexion, die Überwindung des Konformismus, die Hin-