Menschenbilder - Jochen Fahrenberg
Menschenbilder - Jochen Fahrenberg
Menschenbilder - Jochen Fahrenberg
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
163 <strong>Menschenbilder</strong>: Psychologische, biologische, interkulturelle und religiöse Ansichten ( J. <strong>Fahrenberg</strong>, 2007)<br />
„Deshalb können wir nur dadurch zu einer Entscheidung kommen, dass wir den Prozess an irgendeiner<br />
Stelle abbrechen und eine Entscheidung fällen. Der Zeitpunkt des Abbruchs wird dabei<br />
ganz wesentlich durch die Situation, aber auch durch unseren Charakter und unser Temperament,<br />
also durch Gefühle bestimmt, deren wir uns nicht bewusst sind.“<br />
„Angesichts der Tatsache, dass die weitaus überwiegende Zahl der Faktoren, die für eine wirklich<br />
freie Willensentscheidung gegeben sein müssen, niemals vorliegen, kann man auch sagen, dass<br />
der Wille eher mehr oder weniger unfrei ist. ... Die beschriebenen Unfreiheiten ändern nichts daran,<br />
dass wir uns als Urheber unserer Handlungen verstehen können. Und das ist die entscheidende Voraussetzung<br />
für das Erleben von Authentizität und Identität.“ (Tiedemann, Was ist Menschenwürde?<br />
2006) 24<br />
„Wir können uns von einzelnen Gedanken und Wünschen distanzieren, aber nicht von unserem<br />
Denkprozess als Ganzem. ... Positiv gesprochen heißt das, dass es unser Denk- und Willensprozess ist,<br />
mit dem wir identisch sind. Ich kann den Willensbildungsprozess nicht von mir verschieden erleben,<br />
weil er nicht von mir verschieden ist.“... „Wir brauchen keine Freiheit, um uns zu unseren Entscheidungen<br />
entscheiden zu können, weil es keinen Standpunkt gibt, von dem aus wir unsere Entscheidungen<br />
als unfrei und unauthentisch erleben könnten. ... Deshalb ist es gänzlich ohne Bedeutung, was<br />
jenseits unserer Denkprozesse vor sich geht, insbesondere also, ob diese kausal bedingt oder ob sie<br />
zufällig sind.“ 25<br />
Diese Argumente tragen wesentlich zum Verständnis bei, was unter freiem Willen verstanden werden<br />
kann. Die Überlegungen führen zu einer originellen philosophischen Begründung der Menschenwürde<br />
weiter, wenn im Bewusstsein der individuellen und der kollektiven Willensfreiheit der höchste Wert<br />
gesehen wird (Kapitel 19).<br />
Rückblick<br />
Der Gottes-Glauben oder Atheismus, die unsterbliche Seele oder der biologische Tod als Ende der<br />
Existenz und die Behauptung der Willensfreiheit oder deren Negation machen wesentliche Züge des<br />
Menschenbildes aus. Eine Vielfalt von philosophischen Auffassungen kann unterschieden werden.<br />
Jede dieser hauptsächlichen Positionen hat engagierte Anhänger, die gerade diese Anschauung für<br />
nahe liegend und vernünftig halten. Die Handbücher der Philosophie informieren über diese unendlichen<br />
Kontroversen und über zeitweilig mehr oder minder einflussreiche Autoren und Strömungen.<br />
Offensichtlich hat es in diesem Nachdenken bisher keine Konvergenz gegeben. Die Auffassungen<br />
gehen sehr weit auseinander, und in einer pluralistischen und demokratischen Welt wird diese Vielfalt<br />
sicher fortbestehen.<br />
Den Glauben an den Schöpfer-Gott, an die unsterbliche Seele sowie an den freien Willen des<br />
Menschen – viele Menschen werden diese Grundüberzeugungen auch in Zukunft teilen. Diese drei<br />
Grundüberzeugungen haben jedoch ihre allgemeingültige Überzeugungskraft verloren. Diese Grundüberzeugungen<br />
sind nicht denknotwendig, d.h. sie folgen nicht zwingend aus dem Gebrauch der menschlichen<br />
Vernunft. Dass die positiven Gottesbeweise unhaltbar sind, ergab sich aus Kants Kritik der<br />
Vernunft. Auf andere Weise hat das zunehmende Wissen über fremde Kulturen zur Auseinandersetzung<br />
mit den traditionellen Überzeugungen beigetragen. Gott und Seelenprinzip sind religiöse Gewissheiten,<br />
aber nicht in aller Welt. Auch der Atheismus und die Negation einer unsterblichen Seele<br />
sind verbreitet – sogar im religiösen Kontext wie im ältesten Theravada- oder im Zen-Buddhismus.<br />
Das Seelenproblem beschäftigt auf eigentümliche Weise auch das philosophische Denken der<br />
Gegenwart, und einige Neurowissenschaftler haben ihre Überzeugungen sogar in Manifesten dargelegt.<br />
Dabei geht es zunächst nicht um das Seelenprinzip, sondern um die Unterscheidung zwischen<br />
physischen und psychischen Prozessen und um die Beziehungen zwischen diesen. Dieses Gehirn-<br />
Bewusstsein-Problem fände wahrscheinlich sehr viel weniger Interesse, wenn es nicht doch eine religiöse<br />
und spirituelle Bedeutung hätte. Der Bezug auf einen persönlichen Gott oder überhaupt eine<br />
Transzendenz setzt notwendig „transzendenz-bezogene“ Eigenschaften des Menschen, Geistig-<br />
Seelenhaftes voraus, passt also eher zum Dualismus. Es wären schwierige gedankliche Konstruktionen<br />
nötig, um die Auffassung des Monismus, d.h. hier der einen Welt der Physik, mit einem Transzendenzbezug<br />
des Menschen zu vereinen.