Menschenbilder - Jochen Fahrenberg
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231 <strong>Menschenbilder</strong>: Psychologische, biologische, interkulturelle und religiöse Ansichten ( J. <strong>Fahrenberg</strong>, 2007)<br />
fragten Autoritäten, von Kirche, Staat und Institutionen, Eltern und Lehrern, und könnte mit einem<br />
Verfall der Moral verbunden sein – falls nicht eine überzeugende Wertordnung auf vernunftbegründeter,<br />
universaler Basis geschaffen werden kann.<br />
Kritische Kommentare zur Aufklärung sind – zumindest in der deutschen Philosophie (und im<br />
Feuilleton) – bemerkenswert häufig zu lesen. So führt z.B. Willi Oelmüller u.a. die folgenden, sehr<br />
heterogenen Argumente auf: Wesentliche Grundannahmen der Aufklärung selbst seien nicht aufgeklärt.<br />
Die Idee der Aufklärung sei mit einem naiven Fortschrittsglauben verbunden. Angesichts der<br />
Überlebensprobleme der Weltbevölkerung schwände die Überzeugungskraft der Aufklärung. Die Vorstellung<br />
von den Freiheitsrechten des autonomen Subjekts würde zur Begründung des sittlichen und<br />
politischen Handelns im modernen Rechts- und Staatswesen nicht ausreichen. Die Aufklärung habe<br />
z.T. zerstörerisch auf europäische und außereuropäische Kulturen sowie auf Moral und Lebenswelt<br />
gewirkt. Andere Zitate belegen eine tiefe Enttäuschung oder sogar Verachtung der Aufklärung: „Aufklärung<br />
und Demokratie haben die Welt nicht besser gemacht. Die Triumphe der Technik zerstören<br />
die Umwelt, und im Namen der Menschenrechte wird Krieg geführt. Auch die westliche Utopie vom<br />
neuen Menschen ist gescheitert“, schreibt z.B. der südafrikanische Schriftsteller Breyten Breytenbach.<br />
Ein anderes Argument behauptet: der Fortschrittsbegriff der Aufklärung sei nur eine schwache, säkularisierte<br />
Form der religiösen Heilserwartung. Zu den Enttäuschungen scheint auch die Einsicht zu<br />
gehören, dass die menschliche Vernunft weder ein endgültiges System der Wissenschaft noch ein<br />
neues und letztes Orientierungswissen liefern kann. Die Orientierung hinsichtlich der letzten Fragen<br />
nach Wissen, Tun und Hoffen wird vermisst. Die pauschalen Abwertungen gipfeln in der Behauptung,<br />
Aufklärung sei heute nur noch ein Name für Forschungsprojekte über Texte, Themen und Autoren<br />
einer abgeschlossenen Phase der frühen Moderne. Aber dauern nicht die Aufklärung und die Gegen-<br />
Aufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik an? 19<br />
Verständlicherweise mussten die religionskritischen Ideen der philosophischen Aufklärung für<br />
christlich orientierte Denker irritierend sein oder mussten sie zumindest zögern lassen. Johann Gottfried<br />
Herder gilt als ein wichtiger Begründer der Geschichts- und Kulturanthropologie; sein Menschenbild<br />
und sein Begriff der Humanität waren jedoch überwiegend traditionell, durch den christlichen<br />
Glauben und die Idee der Gottesebenbildlichkeit, beeinflusst. Georg Wilhelm Friedrich Hegel,<br />
Philosoph und Theologe wie Herder, begründete seine weitgehend ablehnende Haltung mit den Widersprüchen<br />
zur Welt des christlichen Glaubens und zur gesellschaftlichen Wirklichkeit. Wer an der<br />
Offenbarungsreligion oder an der spekulativen Metaphysik des einen und absoluten Geistes, an Behauptungen<br />
über den nicht hinterfragbaren Sinn von Sein, an großartigen Sinndeutungen der menschlichen<br />
Existenz festhält, wird an den Ideen der Aufklärung und an Vernunftkritik nur bedingtes<br />
Interesse haben.<br />
Wenn anti-aufklärerische Argumente vorgetragen werden, wäre es folglich wichtig, den Hintergrund<br />
mitzuverstehen. Beziehen sich diese Autoren im Grunde doch auf einen Gott oder auf einen<br />
absoluten Geist, auf eine großartige Geschichtsphilosophie, auf die Verheißungen des Marxismus oder<br />
anderer Gesellschaftsutopien? Die religiösen Bindungen oder Positionen der theologischen Philosophie<br />
sind auf den ersten Blick oft kaum zu erkennen. 20 Da es in der Philosophie nicht generell üblich<br />
ist, solche biographischen und weltanschaulichen Ausgangsbedingungen eigens zu erläutern, sind die<br />
Leser in vielen Fällen auf Vermutungen und eigene Analysen angewiesen. So werden z.B. Biographie<br />
und Werk Martin Heideggers immer wieder in dieser theologischen Perspektive diskutiert. Auch einige<br />
Mitglieder der Frankfurter Schule haben in dieser Hinsicht interessante Biographien, nicht zuletzt<br />
Erich Fromm, der seine Ausbildung zum Rabbiner abbrach und eine atheistische Anthropologie schuf.<br />
(Kapitel 3). Bei Max Horkheimer und Theodor W. Adorno führte der Weg von Neo-Marxismus und<br />
Psychoanalyse zur allgemeinen Gesellschaftskritik und schließlich zu religiösen bzw. metaphysischen<br />
Tendenzen. Geistesgeschichtliche Darstellungen gehen nur selten auf eine vertiefende und auch ideologiekritische<br />
Diskussion ein, welche Motive bestimmte Autoren für ihre Kritik der Aufklärung haben<br />
könnten. Psychologische Anthropologie muss dagegen fordern, dass Anthropologie auch eine Explikation<br />
der individuellen <strong>Menschenbilder</strong> und ihrer biographischen Ursprünge beinhaltet.<br />
So vielschichtig wie die Strömungen der philosophischen Aufklärung und ihre Auswirkungen in<br />
Literatur, Kunst und Gesellschaft sind, so heterogen sind auch die Motive der Gegen-Aufklärung, die<br />
sich gegen den Prozess der Aufklärung wendet. Konservative streben eine Wiederherstellung (Restauration)<br />
der traditionellen Glaubens- und Wertordnung an. Die verkündete Herrschaft der Vernunft