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Menschenbilder - Jochen Fahrenberg

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225 <strong>Menschenbilder</strong>: Psychologische, biologische, interkulturelle und religiöse Ansichten ( J. <strong>Fahrenberg</strong>, 2007)<br />

listisches Menschenbild, ein rationalistisches Extrem. Auch alle anderen extremen Haltungen sind<br />

beängstigend: die grenzenlose Wissenschaftsgläubigkeit, der grenzenlose Relativismus und der totalitäre,<br />

christlich-fundamentalistische Wahrheitsanspruch.<br />

Aus dem faktischen Pluralismus folgt keineswegs eine anti-religiöse Haltung. Zweifellos finden<br />

sehr viele Menschen in ihrem Glauben Orientierung und Halt, Grundlagen ihrer Ethik, Motivation für<br />

Caritas und menschliches Engagement in vielen Lebensbereichen. Aufklärung heißt, gegen absolute<br />

Wahrheits- und Universalitätsansprüche zu protestieren und totalitäre, religiöse oder gesellschaftspolitische<br />

Denksysteme zu kritisieren. Wer den Gottes-Glauben nicht teilt, wird neben den vorbildlichen<br />

Einflüssen der Religion und der Religiosität wahrscheinlich die problematischen Aspekte sowie einzelne<br />

negative Folgen deutlicher sehen können. Im Unterschied zu einem intoleranten Atheismus kann<br />

es einen distanzierten, religionsfreundlichen Agnostizismus geben, die menschlichen und sozial förderlichen<br />

Seiten der individuellen Religiosität anzuerkennen, ohne das religiöse Dogma und die Hierarchie<br />

zu akzeptieren.<br />

Individuelles Desinteresse an Aufklärung und Mündigkeit?<br />

Die beginnende Aufklärung muss vor dem Hintergrund der herrschenden Religion und Staatslehre<br />

gesehen werden. Erst während der letzten Generationen sind Religionsfreiheit und Meinungsfreiheit,<br />

die bürgerlichen Rechte und die allgemeinen Menschenrechte mühsam durchgesetzt worden. Einem<br />

großen Teil der Weltbevölkerung werden sie durch Gewalt oder durch ideologische oder religiöse<br />

Lenkung und Diskriminierung weiterhin vorenthalten. Deswegen ist Kants Schrift über die Aufklärung<br />

unvermindert aktuell. Die wichtigsten Hindernisse auf dem Weg zur Aufklärung und Mündigkeit sah<br />

Kant in der Faulheit und Feigheit des Menschen, seinen Verstand zu nutzen. Heute würde eher „die<br />

Erziehung“ verantwortlich gemacht werden, wenn sich eine Person konformistisch, fundamentalistisch,<br />

totalitär und intolerant verhält. Wie es zu solchen Einstellungen kommt, ist vor allem eine psychologische<br />

Frage. Weshalb ist es so schwierig, das von Horaz vor zwei Jahrtausenden formulierte<br />

„sapere aude“ zu verwirklichen? (Von Kant wurde dies nicht als „Wage, weise zu sein!“, sondern mit<br />

„Habe Mut!“ übersetzt).<br />

Mit Faulheit meinte Kant wohl einen Mangel an grundsätzlichem Interesse und an Ernsthaftigkeit<br />

des Nachdenkens. Es sei so bequem, unmündig zu sein. Denn auf die selbst-kritische und unabhängige<br />

Reflexion kommt es an. Das zweite Motiv, zeitlebens unmündig zu bleiben, sah Kant in der Feigheit,<br />

die es Anderen so leicht mache, sich zu Vormündern aufzuwerfen. Heute sprechen wir von autoritären<br />

Persönlichkeitszügen, von mangelnder Zivilcourage oder fehlendem Engagement und können psychologisch<br />

genauer die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme und die Toleranz der Mehrdeutigkeit beschreiben.<br />

Autoritäre Persönlichkeitszüge<br />

Die intellektuelle Aufklärung hat gewiss auch eine gesellschaftliche und politische Seite, d.h. sie ist in<br />

einen sozialpsychologischen Prozess eingebettet und steht, wie Kant sah, weithin unter der Oberaufsicht<br />

der „eingesetzten Vormünder“. Erich Fromm hat diese sozialpsychologischen Bedingungen charakterisiert.<br />

Er war überzeugt, dass das Streben nach Freiheit keine metaphysische Angelegenheit ist,<br />

sondern das unausbleibliche Resultat des Individuationsprozesses und des Wachstums der Kultur.<br />

Aber es gibt Fehlentwicklungen, denn viele Menschen sind dieser Freiheit nicht gewachsen oder ihnen<br />

wurde ein Sozialcharakter anerzogen, der an Macht und Gehorsam orientiert ist. Der geistige Konformismus<br />

verträgt keine Andersdenkenden und keine pluralistische Welt.<br />

Die autoritäre Persönlichkeit kann inhaltlich durch die Ideologien des Faschismus und Nationalsozialismus<br />

oder in ähnlicher Weise durch andere extreme Ideologien orientiert werden. In einigen<br />

biographisch markanten Fällen der letzten Jahrzehnte gab es erstaunliche Übergänge von einer politisch<br />

extrem linken zu einer ebenfalls extremen, rechten Orientierung oder eine Konversion zu einer<br />

totalitären Haltung in einer neuen esoterischen Gemeinschaften.<br />

Perspektiven-Übernahme<br />

Ein individuelles Desinteresse an Aufklärung und Emanzipation allein auf die anerzogenen, autoritären<br />

und konformistischen Charakterzüge oder auf Bequemlichkeit zurückzuführen, wäre zu eng. Es<br />

könnte einfach am Interesse mangeln, über Sinnfragen und Lebensziele nachzudenken.

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