Menschenbilder - Jochen Fahrenberg
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92 <strong>Menschenbilder</strong>: Psychologische, biologische, interkulturelle und religiöse Ansichten ( J. <strong>Fahrenberg</strong>, 2007)<br />
<strong>Menschenbilder</strong> in sozialer und interkultureller Sicht<br />
12 Kommunikation und soziale Interaktion, die Menschen im System<br />
der Familien-Beziehungen, der Lebenswelt und Umwelt<br />
Die soziale Natur des Menschen<br />
Menschen sind ihrer Natur nach auf Kommunikation und soziale Interaktion angelegt. Bei einer Isolierung<br />
von Kleinkindern wie es in einigen berühmten Fällen, z.B. Kaspar Hauser, vorsätzlich oder zufällig<br />
geschehen ist, kann sich nur rudimentär das typisch menschliche Verhalten ausbilden. Für die volle<br />
Entwicklung der Sprache und für das soziale Lernen ist die Bindung an Bezugspersonen entscheidend.<br />
Die frühe Entwicklung vom Neugeborenen bis zum Heranwachsenden ist durch Entwicklungspsychologen<br />
und Verhaltensbiologen sehr genau beschrieben worden. Das gilt für die Ausbildung einzelner<br />
Funktionsbereiche wie Wahrnehmung, Motorik, Emotionalität und Intelligenz und für die Lernprozesse,<br />
die das Selbstbild entstehen lassen. Die grundlegende Sozialisation – durch Kommunikation und<br />
Interaktion – dominiert die Kindheit und wird ergänzt durch eine zunehmende Individuation, d.h. die<br />
Entstehung einer unverwechselbaren, eigenständigen und ihre eigene Existenz reflektierenden Person.<br />
Sozialisation und Individuation sind eigentlich lebenslange Vorgänge.<br />
Bei allen höheren Arten sind Aspekte einer sozialen Interaktion zu finden. Bei den Hominiden,<br />
insbesondere den Schimpansen und Bonobos, wurden die meisten Entsprechungen zum menschlichen<br />
Sozialverhalten beobachtet. Aber sie verfügen, von den Lautäußerungen abgesehen, trotz der grundsätzlichen<br />
Fähigkeit, Zeichenbedeutungen zu lernen, nicht über eine natürliche Sprache.<br />
Seit langem ist bekannt, dass abstrakte Begriffe, z.B. Zahlbegriffe, von mehreren Spezies vorsprachlich<br />
gebildet werden können. Die Evolution der Sprache muss in der Stammesgeschichte des<br />
Menschen einen wesentlichen Anpassungs- und Überlebenswert gebracht haben. Sie ermöglichte eine<br />
bessere Kommunikation über verfügbare Nahrung oder über drohende Gefahren, sie diente als Hilfsmittel<br />
der Erinnerung und ermöglichte – über die gelebte Gegenwart hinaus – über Absichten und<br />
künftiges Verhalten, Vorsorge und Vorratsbildung zu kommunizieren. Das für höhere Leistungen immens<br />
wichtige, abstrakte Begreifen von kausalen Zusammenhängen und das entsprechende Lernen<br />
und Antizipieren von Ereignissen wird von der sprachlichen Begriffsbildung maßgeblich gefördert<br />
worden sein. Denken und Sprache scheinen zumindest teilweise in unterschiedlichen Hirnregionen<br />
repräsentiert zu sein, so eng sie auch zusammenhängen.<br />
Sprachliche Kommunikation allein setzt noch nicht zwingend ein Ich-Bewusstsein voraus, und<br />
über den Zusammenhang von Bewusstseinsbildung und Sprachbildung ist viel spekuliert worden,<br />
ebenso über die Bedeutung der wechselseitigen Wahrnehmung. Indem wir einen anderen Menschen<br />
wahrnehmen, begreifen wir, einem ebenfalls Wahrnehmenden gegenüberzustehen, dem wir naheliegender<br />
Wweise auch ein eigenes Bewusstsein zusprechen sollten. Auf dieser Basis baut die Verständigung<br />
auf und das, was Kommunikationsforscher die symbolische Interaktion nennen, dazu die emotionale<br />
Zuwendung, das Mitgefühl und Mitleiden.<br />
Menschliche Kommunikation ist durch Mimik, Gestik und Lautäußerungen möglich, unvergleichlich<br />
differenzierter wird sie erst durch die Sprache, die auf die Vergangenheit und auf die Zukunft<br />
ausgreifen kann. Doch sollte diese Fähigkeit nicht zu einem Definitionsmerkmal des Menschlichen<br />
verabsolutiert werden. Die Grenzen der Sprache, das Unsagbare, werden deutlich, wenn tiefe Gefühle,<br />
Naturerlebnisse, Werturteile und vielschichtige Gedanken, ganz zu schweigen von spirituellen, mystischen<br />
Erfahrungen, nicht in Worten zu fassen sind. Auch die Taubstummen, die noch keine Zeichensprache<br />
lernen konnten, oder die Behinderten, die wegen einer partiellen Hirnschädigung nicht sprechen<br />
können, sind nach allgemeinem Verständnis zweifellos Menschen – in einer auf Sprachkompetenz<br />
eingerichteten Gesellschaft. Die in der Kindheit taubstumme Helen Keller, die später auf taktile