Menschenbilder - Jochen Fahrenberg
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121 <strong>Menschenbilder</strong>: Psychologische, biologische, interkulturelle und religiöse Ansichten ( J. <strong>Fahrenberg</strong>, 2007)<br />
Lehrer, der als Vorbild Vertrauen verdient. Die überlieferten letzen Worte Gotamas waren, dass es<br />
keine Erlösung durch andere, sondern nur den Weg der Selbstanalyse und Selbstbefreiung gibt.<br />
Dem westlichen Menschen ist die Individualität, die unteilbare, unverwechselbare Persönlichkeit<br />
so wichtig, dass sie als Selbst oder als unsterbliche Seele ewig überdauern soll. Buddha lehrte, dass es<br />
kein Selbst, das diesen Namen verdiente, sondern nur ein Aggregat oder einen Prozess verschiedener<br />
Daseinsfaktoren gibt. Diese Lehre vom Nicht-Ich, d.h. die Überzeugung, dass Ich, Selbst und Person<br />
nur Illusionen sind, widerspricht völlig der abendländisch-christlichen Denktradition, aber auch der<br />
jüdischen Religion und dem Islam.<br />
Im Theravada-Buddhismus stellen sich nicht jene schwierigen Fragen, mit denen sich die monotheistischen<br />
Religionen auseinandersetzen müssen: das Gottesproblem mit der Frage nach der zutreffenden<br />
Beschreibung Gottes und der Autonomie des Menschen, mit dem Theodizee-Problem, wie das<br />
Böse in die Welt kam, mit dem Schicksal der Einzelseele nach dem Tode sowie mit dem Toleranzproblem<br />
angesichts der Wahrheitsansprüche der anderen Götter. Anders als in den drei monotheistischen<br />
Religionen kann es im Buddhismus nicht den Alleinvertretungsanspruch geben, über die Offenbarung<br />
des wahren Gottes zu verfügen. Insofern konnten auch keine Religionskriege im Namen dieses<br />
einzigen Gottes geführt werden. Vielleicht hängt es mit der grundsätzlichen Toleranz zusammen, dass<br />
sich dieser Buddhismus in Indien nicht halten konnte. Buddhas Lehre kennt keine hierarchische Kasten-Gesellschaft<br />
und verlangt Gewaltverzicht und Nicht-Verletzung von Lebewesen (siehe auch<br />
Gandhis Idee der Gewaltlosigkeit Ahimsa). Deswegen wurden die im Hinduismus bis heute vorkommenden<br />
Tieropfer abgelehnt.<br />
Leben wird aus buddhistischer Sicht primär als Leiden und Angst verstanden. Ob diese Überzeugung<br />
wohl dem allgemeinen Lebensgefühl in den süd- und ostasiatischen Ländern oder in den westlichen<br />
Ländern entspricht, ist eine andere Frage. Angst ist auch von westlichen Denkern, z.B. Kierkegaard<br />
und Freud, als ein fundamentaler Wesenszug des Menschen gesehen worden. Es gibt überraschend<br />
viele Entsprechungen zwischen Grundannahmen des Buddhismus und Freuds Menschenbild.<br />
Dies lässt sich in der Trieblehre mit der beherrschenden Kraft der zwei Grundtriebe Gier und Hass<br />
sowie in der Entlarvung von persönlichen Illusionen und Wiederholungszwängen erkennen. Es gibt<br />
weder eine unsterbliche Seele noch einen Schöpfergott, also kein Ziel in einem ewigen Leben, es gibt<br />
einen tiefen Pessimismus und dennoch das praktische Engagement, mit neuen psychologischen Methoden<br />
helfen zu können. Am Anfang steht aus buddhistischer Sicht die Unwissenheit des Menschen<br />
über sich selbst – nicht anders ist dies bei Freud, dem es um die Aufklärung des Menschen über seine<br />
Natur und seine Illusionen ging. Erich Fromm hat die Übereinstimmung zwischen Buddhismus und<br />
Psychoanalyse hinsichtlich Selbsterforschung und Selbsterkenntnis, gestützt auf die Achtsamkeitsmeditation,<br />
betont. 10<br />
Nach diesem buddhistischen Menschenbild gibt es kein überdauerndes Ich, kein Selbst, keine<br />
Seele, keine Identität in diesem Kreislauf. Eine im Bewusstsein vorkommende Anschauung Ich wird<br />
in allen aufscheinenden Varianten verfolgt, um das Konstante, das Identische zu erkennen. Diese Methode<br />
führte zum Resultat, die Anschauung Ich als unhaltbar zu erkennen, als fundamentale Illusion<br />
des Menschen. Das Ergebnis der Selbstanalyse ist grundverschieden von dem, was zwei Jahrtausende<br />
später René Descartes in seinen Meditationen fand. In der Überzeugung „Ich denke, also bin ich“ (cogito<br />
ergo sum) glaubte er, einen festen Punkt für das Denken gefunden zu haben. Hier nimmt die moderne<br />
Unterscheidung von zwei Seinsbereichen ihren Ausgang: das Geistige (res cogitans) und die<br />
dingliche, organische, mechanische Körperlichkeit (res extensa). Diese Konstruktion des Ichs und des<br />
Ich-Bewusstseins trug wesentlich zu den Kontroversen über das Leib-Seele-Problem bei und schuf die<br />
anderen Nachfolgeprobleme des Dualismus, welche die Philosophen und Neurowissenschaftler noch<br />
heute beschäftigen. 11<br />
Das Leben und die gesamte Welt sind ein Werden und Vergehen und als flüchtiges Zusammenballen<br />
von Daseinsfaktoren ohne ein bestimmbares Ich/Selbst und ohne einen ewigen Gott als Halt.<br />
Dies widerspricht zutiefst den im westlichen Denken, in Philosophie und Theologie vorherrschenden<br />
Überzeugungen der Subjekt- und Substanztheorien. Doch das buddhistische Verständnis der Wirklichkeit<br />
hat auch Entsprechungen im Denken Einzelner, z.B. bei David Hume, Arthur Schopenhauer,<br />
Sigmund Freud, in der Vorstellung Ernst Machs vom Haufen der mehr oder weniger zusammenhängenden<br />
Sinneswahrnehmungen und Empfindungen oder in der Prozessphilosophie Alfred North Whiteheads.