Menschenbilder - Jochen Fahrenberg
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224 <strong>Menschenbilder</strong>: Psychologische, biologische, interkulturelle und religiöse Ansichten ( J. <strong>Fahrenberg</strong>, 2007)<br />
durch das naturwissenschaftlich-technische, philosophische und historische Wissen. Außerdem hängt<br />
die Toleranz von bestimmten psychologischen Eigenschaften ab, d.h. vom individuellen Temperament,<br />
der Ausprägung von autoritären Persönlichkeitseigenschaften, von der Fähigkeit zur Perspektiven-Übernahme<br />
u.a. Ein Mensch ist tolerant, wenn er eine Position, die er für falsch hält und ablehnt,<br />
dennoch erträgt, duldet und deswegen seine Mitmenschen gutwillig gewähren lässt, also in ihrem Tun<br />
und Denken nicht einschränkt – im Interesse der Freiheit.<br />
Die Ideen der Freiheit und der Toleranz sind eng miteinander verbunden, denn dort, wo Toleranz<br />
herrscht, wird mehr Freiheit bestehen. Toleranz bedeutet nicht Gleichgültigkeit (Indifferentismus),<br />
alles zu billigen, was geschieht. Toleranz bedarf des vernünftigen Gebrauchs, sie ist kein Wert an sich,<br />
kein Selbstzweck. Deswegen endet die Toleranz, wenn die Freiheit Anderer eingeschränkt wird, und<br />
dort, wo Toleranz für Intoleranz beansprucht wird.<br />
Intoleranz ist die Folge einer sehr entschiedenen Wahrheitsüberzeugung, dass alle anderen Auffassungen<br />
zu diesem Thema falsch und die betreffenden Handlungen unzulässig sind. Diese Zuspitzung<br />
scheint für theologische Kontroversen charakteristisch zu sein, wenn mit der Kategorie „absolute,<br />
göttliche, offenbarte, unbedingte Wahrheit“ operiert und ein Dogma aufgestellt wird. Intoleranz ist<br />
noch nicht mit totalitärer Unterdrückung aller anderen Ansichten gleichzusetzen. Sie kann sich in den<br />
schwächeren Formen der Negation manifestieren: der gedanklichen Ablehnung, im Nicht-Zitieren und<br />
Verschweigen, in der Vereinnahmung und Umdeutung des Gegensatzes, oder in anderen Formen der<br />
Zensur. Die Geschichte der Religionen und politischen Ideologien ist übervoll an Beispielen, wie die<br />
Intoleranz in ihren aggressiven Formen zu materieller Entrechtung, zu physischer Verfolgung und<br />
Vernichtung der Andersdenkenden führen kann.<br />
Die Vorstellungen von Toleranz sind gesellschafts- und kulturabhängig, andererseits muss das<br />
Gleichheitsprinzip einschließlich Meinungs- und Religionsfreiheit als universales Menschenrecht gelten.<br />
Rainer Forst hat die philosophischen und politischen Aspekte der Toleranz und Intoleranz von<br />
den Kirchenvätern bis zur Gegenwart dargestellt. In diese Geschichte der Toleranzvorstellungen gehören<br />
die moralphilosophische Begründungen der Toleranzpflicht und neue Definitionsbemühungen,<br />
Toleranz als symmetrischen Respekt bzw. als Gleichberechtigung im Sinne der Kommunikations- und<br />
Handlungstheorie von Jürgen Habermas zu sehen. Zu kurz kommen bei dieser Sicht die Perspektive<br />
der universalen Menschenrechte und die psychologische Präzisierung der Toleranzkonflikte bzw. der<br />
zugrundliegenden psychologischen Eigenschaften und Prozesse.<br />
Die Diskussion über Toleranz hat viele weitere Facetten und viele begriffliche Varianten. Dazu<br />
gehört – im sokratischen Sinn – die Einstellung, nicht primär auf die Behauptung von Wahrheit ausgerichtet<br />
zu sein, sondern dafür offen zu bleiben, dass die eigene Überzeugung sich als einseitig oder<br />
falsch erweisen könnte. Ernst Tugendhat verwendet dafür den Begriff der intellektuellen Redlichkeit.<br />
Eine andere Sicht ist die Glaubensfestigkeit des religiösen Menschen, trotz widersprechender Erfahrungen,<br />
Bibelkritik, Theodizee-Problem oder anderer Relativierungen, an den eigenen Grundüberzeugungen<br />
festzuhalten. 8 Doch wie verhalten sich die glaubensfesten Christen gegenüber Andersgläubigen<br />
in der Schule und in den gesellschaftlichen Institutionen oder z.B. in der fortdauernden Missionstätigkeit<br />
beider Kirchen (vgl. Kapitel 20)?<br />
Aus psychologischer Sicht muss über die abstrakte Diskussion hinaus genauer gefragt werden,<br />
wie sich die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel und der Respekt vor den Überzeugungen anderer<br />
Menschen im tatsächlichen Verhalten manifestieren: in der Wechselseitigkeit der Anerkennung, in<br />
dem Verzicht auf herablassende Duldung, auf Durchsetzung, Herrschaftsanspruch und Missionstätigkeit?<br />
Der aufgeklärte Mensch<br />
Durch den kritischen, zugleich ernsthaften und mutigen Gebrauch seiner Vernunft gelangt der Mensch<br />
zur Mündigkeit und durchschaut die Rolle der Vormünder. So kann sich der Mensch nach Kants Erwartung<br />
aus seinen selbst verschuldeten Abhängigkeiten befreien. Aufklärung ist ein historischer und<br />
ein individueller Prozess; wenn der Weg durch die allgemeinen Freiheitsrechte gebahnt ist, können<br />
auch die Schritte zur Mündigkeit des Einzelnen leichter fallen. Der aufgeklärte Mensch wird Denkvorschriften,<br />
unbedingte Glaubenswahrheiten und alle nicht rational zu begründenden Autoritäten ablehnen.<br />
Doch der sich permanent aufklärende Mensch, der Mensch als Reflexionswesen, wäre ein unrea-