Menschenbilder - Jochen Fahrenberg
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234 <strong>Menschenbilder</strong>: Psychologische, biologische, interkulturelle und religiöse Ansichten ( J. <strong>Fahrenberg</strong>, 2007)<br />
duellen Freiheitsrechte hervorgehoben, doch scheint die pragmatische Seite der Menschenrechte in der<br />
Beliebigkeit der Meinungen kaum eine Rolle zu spielen. So unbedingt die Forderung nach radikaler<br />
Freiheit in der Kunst gelten mag, so wenig reichen solche Thesen ohne die Verhandlung über ethische<br />
Normen im Alltag aus. Diese geistige Strömung wird Kants Programm einer vernunftgerechten Aufklärung<br />
zum mündigen Menschen offensichtlich nur zum Teil gerecht. Im schnellen Wechsel der Gesellschafts-<br />
und Kulturkritik scheint diese „Postmoderne“ heute bereits von neuen Begriffen oder<br />
Denkmoden abgelöst zu sein.<br />
Habermas und die postsäkularen Verhältnisse<br />
Von Jürgen Habermas stammen wesentliche Beiträge zum Thema Erkenntnis und Interesse. Welches<br />
sind die erkenntnisleitenden Interessen wissenschaftlicher und anderer Arbeit: Herrschaft, Emanzipation<br />
oder andere Absichten? Auch Habermas spricht kritisch von einer instrumentellen Vernunft (Intelligenz?)<br />
und möchte dieser eine kommunikative Vernunft gegenüberstellen, die auf gegenseitiger<br />
Anerkennung und Gewaltfreiheit beruhen solle.<br />
Habermas kommentierte während der letzten Jahre – wie er auch zuvor Zeitströmungen aufnahm<br />
und verdichtete – die Stellung der Religion in der Öffentlichkeit. Diese Annäherung an das Thema<br />
Religion wurde auch durch ein Zusammentreffen mit Kardinal Joseph Ratzinger demonstriert. Anstelle<br />
der früheren Einstellung, die Religion und die gesellschaftliche Rolle der Kirche eingrenzen zu wollen,<br />
sieht Habermas neuerdings die Religion eher als potentielle Schrittmacherin auf dem Weg zu Demokratie<br />
und Menschenrechten. Es geht ihm jetzt um den Respekt vor der Religion, „um die selbstreflexive<br />
Überwindung eines säkularistisch verhärteten und exklusiven Selbstverständnisses der Moderne.“<br />
Eine fruchtbare Diskussion über Religion setze allerdings die Akzeptanz anderer, die Akzeptanz<br />
der Wissenschaft und die Akzeptanz der Demokratie voraus, d.h. eigentlich den allgemeinen Säkularisierungsprozess.<br />
Habermas lässt jedoch unklar, wie dem unbedingten Wahrheitsanspruch des Katholizismus<br />
und des Islam praktisch begegnet werden soll (Kapitel 22).<br />
In der sog. postsäkularen Gesellschaft ist zwar die Trennung von Kirche und Staat vollzogen,<br />
doch existieren die religiösen Gemeinschaften fort und üben Einfluss aus. Statt allmählich zu verschwinden,<br />
wird sogar von einer Rückkehr der Religion gesprochen und von dem fortdauernden Bedürfnis<br />
nach Sinnvermittlung. Daneben gibt es die nicht-religiöse Verwertung religiöser Symbole und<br />
Traditionen in der Kunst, in den Medien und in der Werbung.<br />
Auch Habermas bemüht sich nicht, seine Eindrücke und seine gesellschaftstheoretischen Auffassungen<br />
vom Wandel der Religiosität mit sozialwissenschaftlichen oder religionspsychologischen Forschungsergebnissen<br />
zu belegen. Darüber hinaus hätte ein Vergleich zwischen Deutschland und anderen<br />
Ländern, für die bestimmte Indikatoren einen größeren oder geringeren Grad der Säkularisierung<br />
anzeigen, wichtige Perspektiven vermitteln können.<br />
Habermas’ Begriff der postsäkularen Gegenwart bleibt eigentümlich vage. 22 Auch in der deutschen<br />
Gesellschaft gäbe es genügend Anlässe für direkte Analysen und klärende Beispiele. Dazu gehören<br />
zahlreiche öffentliche, religiös begründete Wertkonflikte, die vielen weiterhin bestehenden Privilegien<br />
der christlichen Kirchen im deutschen Rechtswesen und Staat oder die offenkundige Unmöglichkeit<br />
eines „offiziellen“ und theologisch konstruktiven, interkonfessionellen und interreligiösen<br />
Dialogs. Trotz vieler Anlässe mangelt es immer noch an der von Kant geforderten Befreiung von<br />
dogmatischen Religionsdingen und vom Aberglauben.<br />
Aufklärung und Fortschrittsglauben<br />
Die Kritik an der voreiligen Hoffnung auf den allgemeinen Fortschritt wurde bereits in einem früheren<br />
Abschnitt geschildert. Der Fortschrittsglauben sei durch die Zivilisationsbrüche und den Schrecken<br />
des 20. Jahrhunderts ad absurdum geführt worden. Die Idee der Aufklärung habe die Erwartung vermittelt,<br />
dass sich mit dem mündigen Gebrauch der Vernunft ein universaler Fortschritt einstellen müsse.<br />
Neben anderen hat auch Kant diese Hoffnungen bestärkt, wenn er über das Weltbürgertum, den<br />
ewigen Frieden, einen internationalen Gerichtshof und andere Themen schrieb. Heute wird es eher<br />
kleinlaute, sogar pessimistische Einschätzungen geben.<br />
In seiner Schrift Zum ewigen Frieden hatte Kant den kurzen Entwurf eines Weltverfassungsvertrags<br />
skizziert: eine bürgerliche republikanische Verfassung in allen Staaten, ein Völkerrecht auf einer<br />
Föderation freier Staaten gegründet und ein Weltbürgerrecht, das sich vor allem auf eine „allgemeine