Menschenbilder - Jochen Fahrenberg
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31 <strong>Menschenbilder</strong>: Psychologische, biologische, interkulturelle und religiöse Ansichten ( J. <strong>Fahrenberg</strong>, 2007)<br />
4 Auf der Suche nach individueller Sinngebung, nach Gott, als<br />
lebenslange Aufgabe des Menschen (Viktor Frankl)<br />
In mehr als 30 Büchern hat Viktor Frankl ein Thema behandelt: „Der Mensch vor der Frage nach dem<br />
Sinn“. Alle Bücher kreisen um den Sinn des Lebens und um die von Frankl entwickelte Richtung der<br />
Psychotherapie. Diese „Logotherapie“ soll den psychisch notleidenden Menschen helfen, diesen Sinn<br />
individuell zu finden. Frankl hat sein Menschenbild und sein Plädoyer für Sinnorientierung in Büchern<br />
und unermüdlichen Vortragsreisen in vielen Ländern verbreitet. Diese Wirkung ist durch Frankls eigenes<br />
Schicksal mitgetragen; denn seine Überzeugungen wurden durch sein Leiden in Konzentrationslagern<br />
existenziell vertieft und verinnerlicht. Es ist die authentische Botschaft eines Überlebenden aus<br />
den Vernichtungslagern des NS-Staates.<br />
Es liegt nahe, in Frankls Werk nach den biographischen Bedingungen und nach den philosophischen<br />
Gründen dieses Menschenbildes zu suchen. Zu einigen Aspekten hat sich Frankl wiederholt<br />
geäußert, zu anderen Fragen hat er Antworten vermieden oder sogar ausdrücklich abgelehnt. Im Kern<br />
geht es natürlich um die Definition von Sinn und um die überdauernde Frage, ob Frankl diesen auch –<br />
oder sogar primär – in religiöser Ausrichtung, d.h. hier in monotheistischer Auffassung der jüdischen<br />
und der christlichen Religion, gemeint habe, oder in einer viel allgemeineren Weise. Das fortbestehende<br />
Interesse an Frankls eigener Position zeigt, dass seine genaue Antwort wichtig sein könnte, je nach<br />
Standpunkt vielleicht zu einer Aufwertung oder Abwertung des Menschenbildes und der Logotherapie<br />
führen könnte. Es mag sein, dass Frankl dieser ihm unwesentlich vorkommenden Debatte vorbeugen<br />
wollte und deswegen auf zu entschiedene Stellungnahmen verzichtete.<br />
Sinnfindung<br />
Sinn bezeichnet einen Bedeutungszusammenhang, der erkannt oder hergestellt wird. Aber muss nicht<br />
zwischen dem Sinn für einen bestimmten Menschen und dem Sinn im allgemeinen, d.h. für alle Menschen,<br />
unterschieden werden? Die Definition wird noch schwieriger, wenn außer dem manifesten<br />
Sinngehalt eines Textes auch dessen latenter Sinn, der zunächst verborgen, nebenbewusst oder unbewusst<br />
ist, angenommen wird. „Sinn“ ist folglich ein sehr allgemeiner und missverständlicher Begriff.<br />
Die Methodik, den zunächst verborgenen Sinn in einem Text, einer Rede oder einem anderen<br />
menschlichen Werk zu verstehen, wird oft als Hermeneutik bezeichnet. Ursprünglich ging es um die<br />
Mitteilung des Willens der Götter an die Menschen durch den Götterboten Hermes, dann um die Auslegung<br />
der göttlichen Offenbarung in den Heiligen Schriften. Später kam es eher darauf an, zu entdecken,<br />
was der Autor eines literarischen Textes ursprünglich gemeint hatte (die intentio auctoris). Die<br />
Hermeneutik kann als universelle Methodik der Geisteswissenschaften angesehen werden. 1<br />
Der hermeneutische Prozess verläuft in Schritten, hat durchaus Regeln, und führt zu einem tieferen<br />
Verstehen des Gemeinten, bis sich die Einsicht ergibt, das Gemeinte zutreffend erfasst zu haben.<br />
Die Hermeneutik als Sinnsuche in einem Text hat wesentliche Entsprechungen in der logotherapeutisch<br />
orientierten Sinnfindung. Frankl hat diese Perspektive nicht ausdrücklich beschrieben, doch können<br />
die methodischen Parallelen von Hermeneutik und Logotherapie verstehen helfen, weshalb der<br />
Sinn im einzelnen Leben nicht eindeutig vorliegen wird, sondern zu erarbeiten und zu interpretieren<br />
ist, bis sich die Evidenz einstellt, genau diesen persönlichen Sinn erkannt zu haben. Evidenz heißt,<br />
dass als Ergebnis einer gründlichen Interpretation schließlich der konstruktive Zusammenhang einzelner<br />
Bedeutungen, der Sinn, hervortritt.<br />
„... dann stellt sich heraus, daß es sozusagen drei Hauptstraßen gibt, auf denen sich Sinn finden läßt:<br />
Zunächst einmal kann mein Leben dadurch sinnvoll werden, daß ich eine Tat setze, daß ich ein Werk<br />
schaffe; aber auch dadurch, daß ich etwas erlebe – etwas oder jemanden erlebe, und jemanden in<br />
seiner ganzen Einmaligkeit und Einzigartigkeit erleben heißt, ihn lieben. Es geschieht also entweder<br />
im Dienst an einer Sache oder aber in der Liebe zu einer Person, daß wir Sinn erfüllen – und damit<br />
auch uns selbst verwirklichen. Zuletzt aber zeigt sich, daß auch dort, wo wir mit einem Schicksal konfrontiert<br />
sind, das sich einfach nicht ändern läßt, sagen wir mit einer unheilbaren Krankheit, mit einem<br />
inoperablen Karzinom, daß also auch dort, wo wir als hilflose Opfer mitten in eine hoffnungslose Si-