Menschenbilder - Jochen Fahrenberg
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10 <strong>Menschenbilder</strong>: Psychologische, biologische, interkulturelle und religiöse Ansichten ( J. <strong>Fahrenberg</strong>, 2007)<br />
Der Mensch ist:<br />
– das nicht-festgestellte Tier,<br />
– Schöpfer und Geschöpf der Kultur,<br />
– das Eben- und Gegenbild Gottes,<br />
– die mündige Persönlichkeit,<br />
– das ins „Nichts geworfene“ und „zur Freiheit verdammte Seiende“,<br />
– das gesellschaftsbestimmte, arbeitende und produzierende Lebewesen,<br />
– das vom Unbewussten gesteuerte Triebwesen,<br />
– das gesellschaftsgeschädigte Reflexionswesen,<br />
– ein strukturelles Gebilde ohne Selbst,<br />
– der lernende Reiz-Reaktions-Organismus,<br />
– nur ein Wort „Mensch“?<br />
– Träger und Getragener der Geschichte.<br />
Einheitstheorie des Menschen?<br />
Eine Einheitstheorie und Bestimmung des Menschen scheint es nicht geben zu können. Nicht einmal<br />
in der Physik ist bisher eine Einheitstheorie gelungen, obwohl mit allergrößtem Forschungsaufwand,<br />
wie auf keinem anderen Gebiet, daran gearbeitet wird. Einige Physiker meinen heute, dass es vielleicht<br />
die angestrebte einheitliche Theorie, die Weltformel, nicht geben kann. Eine Einheitstheorie des<br />
Lebens ist noch viel weniger absehbar, trotz des breiten Bezugsrahmens der Evolutionstheorie. Ohne<br />
die ursprüngliche Entstehung des Lebens erklären zu können, fehlt noch die wichtigste Grundlage.<br />
Wie viel anspruchsvoller und schwieriger muss demgegenüber eine Theorie des Menschen sein? Wie<br />
viel komplizierter als die Probleme der Physiker ist hier das Gehirn des Menschen, das am höchsten<br />
entwickelte System im Universum – wie kann das Gehirn Bewusstsein, die Sprache und die Kultur der<br />
Menschen entwickeln?<br />
Können die heutige wissenschaftliche Psychologie und Sozialwissenschaft Kants Fragen beantworten?<br />
Müsste nicht die Forschung, so wie auch in der Genetik und Physiologie des Menschen, ein<br />
zunehmendes Wissen über den Menschen ergeben? Gewiss gibt es lesenswerte Antworten und begründete<br />
Hypothesen zu sehr vielen Teilfragen, aber auch die Einsicht, wie viel sich einer zuverlässigen<br />
Untersuchung entzieht. Eine allgemeine oder gar verbindliche Antwort auf die Frage, was der<br />
Mensch ist, scheint immer weniger erreichbar zu sein. Wir wissen heute so viel mehr von anderen<br />
Kulturen und anderen Religionen, dass allein deswegen schon ein einheitliches Menschenbild unmöglich<br />
geworden ist. Angesichts der im Entstehen begriffenen Weltöffentlichkeit ist die Zeit einer durch<br />
und durch eurozentrischen Philosophie und Religionswissenschaft vorbei.<br />
Die Begegnung mit anderen geistigen Traditionen und <strong>Menschenbilder</strong>n verunsichert und gefährdet<br />
bisher selbstverständliche Auffassungen. Je nach Blickwinkel wird eine Bedrohung der eigenen<br />
religiösen und kulturellen Identität erlebt oder die menschliche Bereicherung durch interkulturelle<br />
Erfahrungen. Vor allem für den bisher vertretenen absoluten Wahrheitsanspruch der christlichen<br />
Kirchen zeichnet sich eine theologisch schwierige Zukunft ab. Wird es im interreligiösen Dialog überhaupt<br />
möglich sein, mehrere gleichberechtigte und grundsätzlich auch gleichwertige Wege der Religion<br />
anzuerkennen?<br />
Der nun entstandene moderne Pluralismus ist nicht nur eine Befreiung von Denkverboten und<br />
Glaubensvorschriften, sondern enthält das Risiko sehr egoistischer und gleichgültiger Haltungen. So<br />
erkennen viele besorgte Menschen eine uferlose Relativierung aller Maßstäbe, einen unbeschränkten<br />
Individualismus und Egoismus, jeder und jede könne tun und lassen, was er oder sie wolle. Auf der<br />
anderen Seite wird die traditionelle Wertordnung durch fundamentalistische und fanatische Anhänger<br />
der Religionen bedroht. Umso wichtiger ist das von Kant erklärte Programm der Aufklärung, die eben<br />
dieser „selbst-verschuldeten Unmündigkeit“ des Menschen abhelfen soll.<br />
Zugleich spitzt sich die Frage nach der gemeinsamen Werteordnung und ihrer rechtlichen Grundlage<br />
zu. Die offensichtlichen Risiken des modernen Pluralismus und der Verlust des Wertemonopols<br />
der christlichen Kirchen fanden im 20. Jahrhundert eine Gegenbewegung in der Erklärung der universalen<br />
Menschenrechte durch die Vereinten Nationen. – Schon Kant hatte eine weltbürgerliche Sicht-