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Menschenbilder - Jochen Fahrenberg

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172 <strong>Menschenbilder</strong>: Psychologische, biologische, interkulturelle und religiöse Ansichten ( J. <strong>Fahrenberg</strong>, 2007)<br />

Identitätstheorie der Menschenwürde<br />

Auf seinem Weg, die Menschenwürde genauer zu bestimmen, entwickelt Paul Tiedemann akzentuierter<br />

als seine Vorläufer, die Bedeutung von Willensfreiheit, Selbstbestimmung und Universalität der<br />

Menschenwürde:<br />

1. Menschenwürde ist der absolute Wert, der einer Person im Hinblick darauf zukommt, dass sie die<br />

grundsätzliche Fähigkeit hat, sich aufgrund eigener Überlegungen selbst in ihrem Willen zu bestimmen<br />

und sich so als Urheber ihres Willens mit sich selbst zu identifizieren.<br />

2. Für Lebewesen, die sich selbst über ihren freien Willen identifizieren können (Personen), hat die<br />

Menschenwürde absolute Präferenz, d.h. sie orientieren sich unhintergehbar an diesem Wertmaßstab,<br />

der in ihrer Wertordnung an oberster Stelle steht.<br />

3. Das Bewusstsein der eigenen Würde geht aus einem kommunikativen Prozess hervor, aus dem<br />

gleichursprünglich auch das Bewusstsein fremder Würde hervorgeht. Diese Gleichursprünglichkeit<br />

ist der Grund dafür, dass die Achtung der fremden Würde nicht als ein nachträglicher Akt im Rahmen<br />

eines Austauschverhältnisses verstanden werden darf. Deshalb ist die Achtung der Würde einer<br />

Person ausschließlich von dem Bewusstsein der eigenen Würde abhängig und nicht davon, ob<br />

diese Achtung erwidert wird. Die Anerkennung fremder Würde setzt also keine Gegenseitigkeit<br />

voraus.<br />

4. Weil das Bewusstsein der eigenen und der fremden Würde aus einem Prozess der Identitätsbildung<br />

hervorgeht, nenne ich den hier vorgelegten Ansatz die Identitätstheorie der Menschenwürde.“<br />

(Paul Tiedemann, Was ist Menschenwürde, 2006). 17<br />

Die psychologischen Begriffe sind hier nicht in einem erfahrungswissenschaftlichen Sinn gemeint,<br />

sondern als philosophische Bestimmung der menschlichen Person, die über Ich-Bewusstsein und das<br />

Bewusstsein der Freiheit des Willens und Handelns verfügt. Wer sich über einen freien Willen definiert,<br />

muss in der Menschenwürde den höchsten Wert erkennen. „Die einzige Chance, die Menschenwürde<br />

als kollektiven Wert auszuweisen“, sieht Tiedemann in dem Nachweis, dass „der absolute<br />

Wertmaßstab, an dem wir unsere eigene individuelle Wertschätzung messen, nicht die eigene Willensfreiheit,<br />

sondern die Willensfreiheit überhaupt“ ist. – Die möglichen Einwände, die juristische Seite,<br />

die notwendigen Konkretisierungen und Wertkonflikte hat Tiedemann ausführlich behandelt, auch aus<br />

philosophischer und psychologisch-anthropologischer Sicht (zum zentralen Begriff der Willensfreiheit,<br />

siehe Kapitel 18).<br />

Menschenwürde und Menschenrechte im Christentum<br />

Strittig ist, inwieweit Menschenwürde und Menschenrechte eigentlich aus der christlichen Tradition<br />

stammen oder als moderne Freiheitsrechte den Kirchen erst abgerungen werden mussten. Für beide<br />

Auffassungen gibt es gute Gründe, und eine zusammenfassende Bewertung wird von der eigenen religiösen<br />

bzw. emanzipatorischen Grundhaltung beeinflusst sein. Gewiss bleibt es ein zentrales Thema<br />

der Anthropologie, vielleicht der Kern des Menschenbildes überhaupt: Sind Menschenwürde und<br />

Menschenrechte allein durch Gott gegeben bzw. theologisch verankert oder stammen sie allein aus der<br />

Vernunft der autonomen, mündigen Menschen? Dieses Selbst-Bewusstsein des Menschen kann vielen<br />

als Gottlosigkeit vorkommen, anderen als Mündigkeit der Vernunft. Diese Kontroverse wird sich in<br />

der Frage fortsetzen, welche dieser „letzten“ Begründungen der Moral die sicherste Instanz der unbedingten<br />

Gültigkeit ist. Wer an die göttliche Instanz glaubt, wird sich der anschließenden Frage ausgesetzt<br />

sehen, welche der Instanzen den größeren Geltungsbereich haben würde, das notwendiger Weise<br />

auf die Gottesvorstellung einer bestimmten Religion bezogene Axiom oder die kritische Vernunft mit<br />

der erhofften universalen Geltung für alle Menschen, auch für die Menschen anderer Religionen und<br />

ebenso für die Nicht-Religiösen und Atheisten. Die Erklärung der universalen Menschenrechte der<br />

Vereinten Nationen enthält deshalb keinen Bezug auf Gott.<br />

Menschenwürde und Menschenrechte wurden durch Gott gewährt und sind allein durch ihn begründbar.<br />

Für Christen ist dies eine fundamentale Wahrheit. Zwar ist der Mensch auf die ethischen<br />

Gebote und Verbote Gottes verpflichtet, doch erhielt der Mensch auch ein Freiheitsrecht, d.h. die<br />

Möglichkeit, zwischen Gut und Böse zu wählen. Die besondere Würde des Menschen – im Vergleich

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