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Menschenbilder - Jochen Fahrenberg

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148 <strong>Menschenbilder</strong>: Psychologische, biologische, interkulturelle und religiöse Ansichten ( J. <strong>Fahrenberg</strong>, 2007)<br />

chen Fähigkeiten gibt, die zum Beispiel Gedanken lesen können“ glauben 43 % (selbst erlebt 10 %)<br />

und „Dass man zukünftige Ereignisse vorhersagen kann“ 32 % (selbst erlebt 13 %). Die Antworten<br />

hängen hier weder mit Schulbildung und Berufsgruppe noch mit dem Alter deutlich zusammen, doch<br />

war die Zustimmung in der weitaus weniger religiös orientierten ostdeutschen Bevölkerung deutlich<br />

geringer als im Westen. Der Glaube an Gott und die Zugehörigkeit zu einer Kirche scheinen den<br />

Wunderglauben zu fördern 30<br />

Die Behauptung einer Wiederkehr der Religion ist falsch, wenn die Mitgliedschaft in den großen<br />

Volkskirchen oder die Rückbesinnung auf den persönlichen Gott und andere zentrale christliche Dogmen<br />

gemeint sind. Wenn von Theologen argumentiert wird, viele der Nicht-Mitglieder seien im Grunde<br />

doch religiös und gottgläubig, kann erwidert werden, dass umgekehrt ein beträchtlicher Anteil der<br />

nominellen Kirchenmitglieder sich als atheistisch einordnet.<br />

Meinungsumfragen können in statistisch-repräsentativer Weise Veränderungen und auch Konstanten<br />

religiös-weltanschaulicher Überzeugungen erkennen lassen. Die statistischen Daten sprechen<br />

gegen einfache Erklärungen. Die Umfragen zeigen außerdem, dass einfache Prognosen über die Weltanschauung<br />

der nicht der Kirche angehörigen Personen unzutreffend sind. Weder die kompensatorische<br />

Zunahme der Esoterik noch das Vordringen des Nihilismus, wie von Drewermann bzw. Frankl<br />

angenommen, lassen sich aus den ALLBUS-Analysen belegen. Tiefer gehende Analysen der religiösen<br />

Erfahrungen und der persönlichen Motive des Glaubens und Unglaubens verlangen eine biographische<br />

Untersuchung. Über die früher häufig vertretene Säkularisierungshypothese, dass die Religion<br />

in der modernen Gesellschaft verschwinden werde, ist damit sicher nicht entschieden, denn niemand<br />

kann zyklische Veränderungen ausschließen. Gegenwärtig lassen sie sich in Deutschland nicht belegen,<br />

sondern diese Wiederkehr der Religion spielt sich hauptsächlich in den Medien und in den Reaktionen<br />

der interessierten Kreise ab. Solche Behauptungen können und sollen vielleicht ihre eigene<br />

Wirkung entfalten.<br />

Auch die ZEIT und der SPIEGEL haben großen Anteil an diesem Medien-Event, obwohl sie sich<br />

oft nur auf kleine und deswegen relativ unzuverlässige Umfragen stützen. Die Autoren des SPIEGEL<br />

zitieren dabei in unkritischer Weise nur den Prozentsatz der Gottgläubigen aufgrund einer unscharfen<br />

Frage (2007: 64 %; 1992 33 %), ohne die sehr wichtigen methodischen Details zu erwähnen. 31 Außerdem<br />

haben die Journalisten offensichtlich vergessen, dass der SPIEGEL 1992 eine Schlagzeile hatte:<br />

„Nur noch jeder Vierte ein Christ“. Neuerdings scheinen aber die für das Christentum wesentlichen<br />

Themen „persönlicher Gott“ und „Gottes-Sohnschaft Jesu“ nicht mehr gefragt worden zu sein oder<br />

den Autoren passten die Ergebnisse nicht. Ähnlich oberflächlich sind viele andere Beiträge zur angeblichen<br />

Rückkehr der Religion. – Wie schnell doch die frühere Religionskritik vergessen werden kann.<br />

Die Hypothese, das zugrunde liegende religiöse Bedürfnis verschiebe sich nur vom traditionellem<br />

Christentum in den Bereich der Esoterik oder in andere „Ersatzformen“, lässt sich in dieser pauschalen<br />

Weise nicht bestätigen, denn auch die Mitglieder der Kirchen haben solche Tendenzen. Zumindest ist<br />

Religion viel eher zur undogmatischen Privatangelegenheit geworden. Religionsangehörigkeit und<br />

Kirchlichkeit haben zwar sehr stark abgenommen, nicht jedoch die Religiosität in einem sehr weit<br />

gefassten Begriff von individuell gestellten und unterschiedlich beantworteten Sinnfragen und allgemeiner<br />

Spiritualität. Sowohl die Säkularisierungshypothese als auch die Verschiebungshypothese sind<br />

viel zu schematisch, um die individuellen <strong>Menschenbilder</strong> und Trends differenziert beschreiben zu<br />

können. Der Säkularisierungsprozess in Mittel- und Nordeuropa hat wahrscheinlich eine andere Dynamik<br />

als in anderen Ländern, und ohne gründlichere empirische Untersuchungen und vergleichende<br />

Analysen sind Verallgemeinerungen unangebracht. 32 Auch aus soziologischer Sicht wird ein teilweiser<br />

Funktionswechsel der Religion und eine Differenzierung der Institutionen beschrieben. In der heutigen<br />

säkularisierten Gesellschaft sehen sich die Kirchen weiterhin für die überdauernden Fragen nach<br />

dem Sinn des Lebens und die Fundierung der Moral zuständig; sie unternehmen auch politische Interventionen,<br />

um die Gesetzgebung zu beeinflussen, falls dort andere Werte maßgeblich sind.<br />

Die Religionsphilosophie und die psychologische und soziologische Forschung vermitteln ein<br />

vielschichtiges und teils auch verwirrendes Bild der Religiosität. Verschiedene Aspekte können aufgezählt<br />

werden: das Wissen über Glaubensinhalte und Kirche, die eigene Übereinstimmung mit der offiziellen<br />

Glaubenslehre, die Beschäftigung mit religiösen Fragen, die Dimensionen der Spiritualität und<br />

des religiösen Vertrauens, die persönlichen religiösen Erfahrungen und deren Veränderungen im Lauf<br />

des Lebens, die Kirchlichkeit, d.h. die gelebte religiöse Praxis. Typische Themen der Religionspsy-

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