Menschenbilder - Jochen Fahrenberg
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64 <strong>Menschenbilder</strong>: Psychologische, biologische, interkulturelle und religiöse Ansichten ( J. <strong>Fahrenberg</strong>, 2007)<br />
gaben z.B. Zahlen und Symbole einander schnell zuzuordnen oder begriffliche Gemeinsamkeiten und<br />
inhaltliche Zusammenhänge besonders gut zu erkennen vermag, wird wahrscheinlich auch die Teile<br />
eines komplizierten Mosaiks richtig anordnen können oder treffende logische Schlussfolgerungen<br />
ziehen können. Ob dieser Mensch seine Begabung im Alltag erfolgreich umzusetzen vermag, auch bei<br />
sozialen Aufgaben anwenden kann oder gar kreative Leistungen vollbringt, ist im statistischen Sinn<br />
nicht vorherzusagen. Es ist sehr zweifelhaft, ob Menschen mit hoher Intelligenz auch über ein entsprechend<br />
hohes Kritikvermögen oder ein zuverlässiges moralisches Urteil verfügen. Wären diese Begabungen<br />
tiefer miteinander verbunden, hätte es kaum so viele Professoren, Richter, Ärzte, Psychologen,<br />
Studienräte u.a. Akademiker und Absolventen „humanistischer“ Gymnasien als aktive Anhänger, Mitläufer<br />
oder Täter des Nationalsozialismus geben können. Unter dieser Perspektive ist an die von Kant<br />
getroffene Unterscheidung von Verstand, Urteilsvermögen und Vernunft zu erinnern. Trotz einer hohen<br />
Intelligenzbegabung können Menschen unvernünftig handeln und ein unabhängiges und kritisches<br />
Urteilsvermögen völlig vermissen lassen.<br />
Einstellung und Verhalten<br />
Die differentielle Psychologie kann weithin auch als ein Aufdecken von zu einfachen Annahmen über<br />
Eigenschaften und Verhalten der Menschen verstanden und gelehrt werden. Manchmal scheinen<br />
Sprichwörter bereits aufgrund allgemeiner Lebenserfahrung solche Einsichten in die widersprüchliche<br />
Verfassung der Menschen auszudrücken, doch die in der Bevölkerung verbreiteten psychologischen<br />
Alltagstheorien enthalten zugleich auch sehr pauschale, fast stereotype <strong>Menschenbilder</strong> ohne die notwendigen<br />
Differenzierungen nach Individuum, Eigenschaft und Situation. 11<br />
Lassen sich Handlungen eines Menschen aus den zuvor selber geäußerten Einstellungen vorhersagen?<br />
Hier ist nicht eine perfekte Vorhersage oder eine allgemeine, für jede Situation zutreffende<br />
Prognose gemeint, sondern nur ein statistischer, d.h. mehr als nur zufälliger Zusammenhang. Die<br />
durchschnittlichen Zusammenhänge sind gering. Gewiss gibt es die konsequenten Bekenner – „Hier<br />
stehe ich und kann nicht anders.“ Es gibt die unbeeinflussbaren Zeugen, Bekenner und Märtyrer. Andererseits<br />
ist es nur verständlich, dass eine grundsätzliche Überzeugung nicht in jeder Situation das<br />
Handeln bestimmen kann. Welche Bedingungen dabei im Einzelnen mitspielen, wie die Vorhersagen<br />
verbessert werden könnten, beschäftigt die sozialpsychologische Forschung. Weshalb stimmen bei<br />
nicht wenigen Menschen Einstellung und Verhalten überein, während bei vielen anderen die größten<br />
Differenzen bestehen? Die Diskrepanzen zwischen geäußerten Einstellungen und tatsächlichem Handeln<br />
werden immer wieder sehr beeindrucken können.<br />
Wie ausgeprägt bestimmte Einstellungen sind, wird methodisch meist durch Fragebogen erfasst,<br />
und diese haben grundsätzliche Mängel, wenn die Fragen zu allgemein gestellt sind, einen Rückblick<br />
oder eine Zusammenfassung über viele verschiedene Lebenssituationen verlangen, z.B. wenn gefragt<br />
wird, ob sich jemand der Aussage „Ich bin eher ein konservativer Mensch“ zustimmt oder nicht zustimmt.<br />
Bei der Beantwortung sind mindestens vier Aspekte zu unterscheiden: die Interpretation der<br />
Frage, d.h. hauptsächlich des Begriffs konservativ, die Aktualisierung der eigenen Überzeugungen und<br />
Gefühle hinsichtlich dieses Begriffs, die Urteilsbildung und das Auswählen der zutreffenden Antwort.<br />
Dabei werden zumindest unterschwellig die Erinnerung an frühere Erfahrungen oder an typische Konservative<br />
einfließen, das autobiographisches Gedächtnis und dessen Konstruktionen und Rekonstruktionen<br />
der Selbstkonzepte, persönliche Tendenzen des Erinnerungs- und Urteilsprozesses und viele<br />
andere Faktoren. Wie vielschichtig dieser Prozess ist, kann hier nur angedeutet werden. Diese Zusammenhänge<br />
sind in den Lehrbüchern der Sozialpsychologie ausführlich dargestellt. 12<br />
Ein tieferer Grund ist wahrscheinlich darin zu sehen, dass wir unser Selbstbild immer wieder neu<br />
formieren und Widersprüche einebnen, d.h. die einzelnen Selbstkonzepte untereinander und mit den<br />
neuen Informationen zu harmonisieren versuchen. Deshalb ist dieses „Wissen über sich selbst“ eine<br />
sehr fragwürdige Konstruktion und eine wissenschaftliche Psychologie, die sich ausschließlich auf<br />
solche Selbstbeurteilungen (in Fragebogen oder Interviews) verlässt, eine zweifelhafte Angelegenheit.<br />
Für die Person haben dieses Selbstbild und die Selbstbeurteilungen von Eigenschaften sicher psychische<br />
Realität, und Psychologen nehmen auch einen wirklichkeitsformenden Einfluss an. Dennoch ist<br />
es eine einseitige Perspektive, die durch eine unabhängige Beobachtung des Verhaltens ergänzt werden<br />
muss, um gravierende psychologische Fehleinschätzungen zu vermeiden.