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Menschenbilder - Jochen Fahrenberg

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119 <strong>Menschenbilder</strong>: Psychologische, biologische, interkulturelle und religiöse Ansichten ( J. <strong>Fahrenberg</strong>, 2007)<br />

pekt, direktes Leiden im gegenwärtigen Leben und Ängstigung vor der Zukunft. Diese vorauseilende<br />

Angst vor dem kommenden Leiden soll bei dem Prinzen Gotama, der auf einer Ausfahrt mit diesen<br />

Lebensstadien direkt konfrontiert wurde, die Suche nach dem Weg zur Befreiung vom Leiden ausgelöst<br />

haben. Auch der momentane Lebensgenuss ist letzten Endes leidvoll, weil er das „Anhaften“ an<br />

das Leben verlängert. Alles Leben ist leidvoll; wer das erkannt hat, will dem weiteren Leben und Leiden<br />

entgehen.<br />

Nicht-Ich (Anatta)<br />

„Darum also, ihr Mönche: Was es auch an Körperlichkeit, was auch an Empfindung, an Wahrnehmung,<br />

an Einprägungen, an Erkennen gibt, vergangen, zukünftig oder gegenwärtig, eigen oder fremd,<br />

grob oder fein, hässlich oder schön, fern oder nahe – alle diese Gestalten, Empfindungen, Wahrnehmungen,<br />

Einprägen und alles Erkennen sollte man in rechter Einsicht der Wirklichkeit gemäß so ansehen:<br />

Das gehört mir nicht, das bin ich nicht, das ist nicht mein Ich.“ (Vinaya-Pitaka) 3<br />

Dieses ist nicht Ich und jenes ist nicht Ich. In einer tief reichenden und sehr genau zerlegenden Betrachtung<br />

lässt sich nichts erkennen, was als Ich Bestand haben könnte. „Atta, Selbst, Persönlichkeit,<br />

ist eine bloße konventionelle Ausdrucksweise und keine Bezeichnung von etwas wirklich Vorhandenem.“<br />

(Nyanaponika, 2000) 4 Mit größter Genauigkeit und Ausdauer wird die Analyse der eigenen<br />

Bewusstseinsprozesse unternommen. Weder in den wahrgenommenen einzelnen Bestandteilen des<br />

Körpers noch in irgendwelchen einzelnen Zuständen oder einzelnen Inhalten des Bewusstseins, nirgendwo<br />

in diesem Strom des Lebens gibt es etwas, dass unveränderlich, konstant, über die Zeit mit<br />

sich identisch ist und Ich genannt werden könnte. Gefühle und Gedanken sind nur vorüberziehende,<br />

vergängliche Phänomene. Mit diesem Ergebnis der Selbstanalyse setzte sich Gotama in direkten Widerspruch<br />

zum Brahmanismus, denn dieser lehrte, dass jeder Mensch Träger eines Atman (atta), eines<br />

unzerstörbaren innersten Kerns ist, der als verknüpfendes Band die Wiedergeburten zusammenhält.<br />

Dagegen stand nun die Behauptung vom Nicht-Ich. Nichts in diesen Daseinsfaktoren, Körperlichkeit,<br />

Gefühle, Wahrnehmung, Geistesformationen und Bewusstsein hat Bestand; und die befreiende Einsicht<br />

lautet: das bin nicht ich.<br />

Sich dieses Anatta mit allen Konsequenzen klar zu machen und danach zu leben, macht die ursprüngliche<br />

Lehre des Buddha aus, und diese Einsicht wird die Haltung zum Leiden und zum Tod<br />

verändern können. Beschrieben wird das vollständige und unumkehrbare Erlöschen aller Daseinsfaktoren,<br />

die Freiheit von Gier, Hass und Verblendung, das totale Freisein von Leid und den Voraussetzungen,<br />

aus denen es erwächst, und darüber hinaus ist über diese reine Stille nichts zu sagen, weil<br />

keine Person als Betroffener vorhanden bleibt. „Das Leiden gibt es, doch kein Leidender ist da. Die<br />

Taten gibt es, doch kein Täter findet sich. Erlösung gibt es, doch nicht den erlösten Mann. Den Pfad<br />

gibt es, doch keinen Wandrer sieht man da.“ (Visuddhi-Magga). 5<br />

Nirvana (Nibbana)<br />

„Es gibt, ihr Mönche, einen Bereich, wo weder Festes noch Flüssiges ist, weder Hitze noch Bewegung,<br />

weder diese Welt noch jene Welt, weder Sonne noch Mond. Das, ihr Mönche, nenne ich weder<br />

ein Kommen, noch ein Gehen, noch ein Stillestehen, weder ein Geborenwerden, noch ein Sterben. Es<br />

ist ohne jede Grundlage, ohne Entwicklung, ohne Stützpunkte: das eben ist das Ende des Leidens.“<br />

(Udana). 6<br />

Dass wirklich kein Ich zu erkennen ist, musste vor dem Hintergrund der damals bestimmenden Lehre<br />

des Brahmanismus wie eine tiefe Erschütterung oder wie ein Aufwachen wirken. Wenn kein Ich zu<br />

erkennen ist, dann gibt es in dem ewigen Kreislauf von Geburt, Leiden, Angst und Tod keine konstante<br />

personale Identität. Der Ausstieg aus dem zyklischen Ablauf wäre das Ende – oder der Übergang in<br />

einen anderen Zustand, der mit Auslöschen und Verwehen umschrieben wird. Auch diese Aussage ist<br />

nicht als abstrakte ontologische Aussage gedacht, sondern als Feststellung, dass über diesen Zustand<br />

nur gesagt werden kann, was er nicht ist – und es darüber hinaus nichts zu sagen gibt.<br />

Das restlose Erlöschen der lebensbejahenden und sich anklammernden Antriebe, die restlose Befreiung<br />

von aller künftigen Wiedergeburt, von Leiden und Elend, von Altern und Sterben, bildet das<br />

höchste Ziel des buddhistischen Strebens. Nur wenn Nibbana in dem Rahmen der Anatta-Lehre vom

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