Menschenbilder - Jochen Fahrenberg
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6 <strong>Menschenbilder</strong>: Psychologische, biologische, interkulturelle und religiöse Ansichten ( J. <strong>Fahrenberg</strong>, 2007)<br />
Fragestellungen der Philosophie. Aber lassen sich diese Themen ausklammern, wenn es um eine<br />
Theorie des Menschen geht?<br />
Auch im geistes- und kulturwissenschaftlichen Themenbereich sind die Lücken offenkundig: Religionswissenschaft,<br />
Religionspsychologie und interreligiöser Dialog, Menschenrechte und Weltethos,<br />
Pluralismus und andere Kernthemen, die das heutige Menschenbild wesentlich mitbestimmen. Weshalb<br />
diese Themen vermieden werden, ist kaum verständlich, wenn zugleich immer wieder die Ganzheit<br />
des Menschen betont wird. Dass nicht der ganze Mensch gemeint sein kann, belegt auch die fast<br />
uneingeschränkte Dominanz der europäischen (deutschen) Tradition. Die Philosophische Anthropologie,<br />
die auch in anderen Kulturkreisen zu einem sehr differenzierten Nachdenken über den Menschen<br />
gelangte, findet kaum Erwähnung. Philosophische Anthropologie ist auch für die jüngeren Autoren<br />
fast ausschließlich eine des Westens. Auch in dieser weltbürgerlichen Hinsicht war Kant voraus.<br />
Das Schicksal seines Buches ist eigentümlich. Viele Philosophen und die meisten Psychologen<br />
scheinen heute schnell über die Anthropologie hinweg zu gehen. Sie gilt in der deutschen Philosophie<br />
eher als ein Nebenwerk der großen Kritiken, denn die fundmentale Bestimmung des Menschen als<br />
moralfähiges Vernunftwesen habe ihren Platz in der Metaphysik der Sitten. Dagegen ist zu sagen, dass<br />
sich für Kant alles Interesse der Vernunft, das spekulative, das praktische und das theoretische Interesse<br />
in den vier Fragen vereinigte, die hier als Programm seiner Anthropologie einleitend zitiert wurden.<br />
Auch seine praktischen Absichten und sein Programm der Aufklärung gehören dazu.<br />
In Deutschland kam es in der Folgezeit nicht zu einer integrativen (oder wenigstens interdisziplinären)<br />
Anthropologie. 14 Aus den geschichtlichen Darstellungen ist zu entnehmen, wie auch in der<br />
Zeit nach Kant eine spekulative, metaphysische Psychologie weiterlebte. Zwar entstanden am Anfang<br />
des 19. Jahrhunderts, u.a. von Gottlob Ernst Schulte und Jakob Friedrich Fries, programmatische Bücher<br />
über eine psychische und physische Anthropologie, die sich ausdrücklich von der spekulativen<br />
Seelenlehre abgrenzte und mit einem neuen Methodenanspruch, sogar mit konkreten Anwendungsempfehlungen<br />
hervortrat. 15 Die Absicht, die Philosophie – auch in ihren Grundlagen – stärker als<br />
zuvor mit empirischer Psychologie zu verbinden, führte bald zum Vorwurf des „Psychologismus“,<br />
einer auch heute noch verbreiteten Abwehrhaltung. Die weitaus größere Breitenwirkung gewannen<br />
jedoch andere Autoren, u.a. Johann Friedrich Herbart, Franz von Brentano, Gustav Theodor Fechner,<br />
die als Pioniere der heutigen Psychologie gelten. Vielleicht hat mitgespielt, dass sie weiterhin deutlich<br />
unter dem Einfluss der traditionellen metaphysischen Seelenlehre und Geistesmetaphysik standen, die<br />
Kant für erledigt hielt. Erst mit Wilhelm Wundt, der zwei Hauptwege der Psychologie sah, die experimentelle<br />
bzw. physiologische Psychologie und die empirische Völkerpsychologie, gab es für eine<br />
interdisziplinäre Anthropologie (empirische Psychologie) neue strategische Impulse innerhalb des<br />
Faches 16 – wie auch von außen durch Sigmund Freuds Psychoanalyse. In der deutschen Philosophie<br />
blieb die Anthropologie von Hegel bis zu Husserl und Heidegger mit wenigen Ausnahmen eher ein<br />
Randthema. 17<br />
Selbstverständlich kann von der Philosophie keine umfassende Integration des Wissens über den<br />
Menschen verlangt werden, denn dies würde heute eine interdisziplinäre Ausbildung verlangen. Aber<br />
wie könnten die Folgen der Abgrenzung oder Beschränkung überwunden werden, wie weit kann gerade<br />
beim Thema Mensch die Reflexion führen, wenn die empirischen Humanwissenschaften weitgehend<br />
ausgeklammert werden? Insgesamt ergibt sich der Eindruck, dass diese Philosophische Anthropologie<br />
noch weit davon entfernt ist, dem in Kants Anthropologie enthaltenen interdisziplinären Programm<br />
zu entsprechen, eine systematische philosophische Bestimmung des Menschen in Verbindung<br />
mit dem zunehmenden Wissen über die Natur und die Geistigkeit (Kultur) des Menschen zu entwerfen.<br />
Die Philosophische Anthropologie hat vor allem in Deutschland eine eigentümliche Verfassung, denn<br />
die empirischen Humanwissenschaften werden zugunsten einer historisch-geisteswissenschaftlichen<br />
Anthropologie weitgehend ausgeklammert. Am auffälligsten ist diese oft defensive Haltung gegenüber<br />
der Psychologie, d.h. der nächstgelegenen Disziplin, die sich institutionell zuletzt von der Philosophie<br />
trennte; noch vor fünfzig Jahren waren viele der deutschen Psychologie-Professoren von Haus aus<br />
Philosophen. Die Mehrzahl der Autoren über Philosophische Anthropologie scheint ohne die theoretischen<br />
Konzepte und empirischen Ergebnisse der Psychologie auskommen zu wollen. Ein Beispiel<br />
solcher Defizite ist 2004 die Anthropologie von Christoph Wulf, dessen Sachregister weder die Be-