Menschenbilder - Jochen Fahrenberg
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32 <strong>Menschenbilder</strong>: Psychologische, biologische, interkulturelle und religiöse Ansichten ( J. <strong>Fahrenberg</strong>, 2007)<br />
tuation hineingestellt sind, auch dort, ja gerade dort, läßt sich das Leben noch immer sinnvoll gestalten,<br />
denn dann können wir sogar das Menschlichste im Menschen verwirklichen, und das ist seine<br />
Fähigkeit, auch eine Tragödie – auf menschlicher Ebene – in einen Triumph zu verwandeln. Das ist<br />
nämlich das Geheimnis der bedingungslosen Sinnträchtigkeit des Lebens: daß der Mensch gerade in<br />
Grenzsituationen seines Daseins aufgerufen ist, gleichsam Zeugnis abzulegen davon, wessen er und er<br />
allein fähig ist.<br />
Ich möchte sagen, menschliche Existenz ist zutiefst durch ihre „Selbst-Transzendenz“ charakterisiert.<br />
Menschsein weist über sich selbst hinaus, es verweist auf etwas, das nicht wieder es selbst ist.<br />
Auf etwas oder auf jemanden. Auf einen Sinn, den zu erfüllen es gilt, oder auf anderes menschliches<br />
Sein, dem wir begegnen. Auf eine Sache, der wir dienen, oder auf eine Person, die wir lieben“ (Der<br />
Mensch vor der Frage nach dem Sinn. Eine Auswahl aus dem Gesamtwerk, 1979). 2 Sinn kann nicht<br />
gegeben, sondern muß gefunden werden. 3 ... Kein Psychiater, kein Psychotherapeut – auch kein Logotherapeut<br />
– kann einem Kranken sagen, was der Sinn ist, sehr wohl aber, daß das Leben einen Sinn<br />
hat, ja – mehr als dies: daß es diesen Sinn auch behält, unter allen Bedingungen und Umständen, und<br />
zwar dank der Möglichkeit, noch im Leiden einen Sinn zu finden.“ 4<br />
Geistigkeit, Sinn und Übersinn<br />
Bereits als Schüler und dann als Student steht Frankl unter dem Einfluss von Sigmund Freud und anschließend<br />
von Alfred Adler. Er wird jedoch aus Adlers Verein für Individualpsychologie ausgeschlossen,<br />
nachdem er auf einer Sitzung Kritik an Adlers Menschenbild vorgetragen hat, d.h. an der<br />
zentralen Rolle von Machtstreben und psychischer Kompensation vorhandener funktioneller Minderwertigkeit.<br />
Die vielfältige Struktur des menschlichen Daseins dürfe nicht auf wenige psychologische<br />
Grundzüge reduziert werden. 5<br />
Im Gegensatz zu Freud, Adler oder Fromm ist Frankl vom fundamentalen Dualismus zwischen<br />
Natur (Leben) und Geist überzeugt. Er übernimmt Grundgedanken aus Max Schelers Metaphysik des<br />
„einen und absoluten Geistes“, insbesondere die Kategorien Sinn und Wert. Im Zentrum steht die Person<br />
mit ihrer Wertorientierung. Frankl sieht in der Geistigkeit, neben Freiheit und Verantwortlichkeit,<br />
Wesensmerkmale des Menschen und bereits 1929 unterscheidet er drei Wertgruppen, d.h. drei Möglichkeiten,<br />
dem Leben einen Sinn abzugewinnen: „eine Tat, die wir setzen, ein Werk, das wir schaffen,<br />
oder ein Erlebnis, eine Begegnung und Liebe“ (Was nicht in meinen Büchern steht, 1995). 6 Durch<br />
Max Schelers Buch Formalismus in der Ethik (das Frankl nach seiner Erinnerung, wie eine Bibel mit<br />
sich herumtrug) habe er seinen eigenen Psychologismus erkannt. „Das ‚Humanissimum’, d.h. das wesentlich<br />
Menschliche ist weder der Wille zur Lust noch der Wille zur Macht, sondern eben der Wille<br />
zum Sinn“ 7<br />
Der Mensch verfügt im Gewissen, dem „Sinn-Organ“, über eine primäre Fähigkeit. Das Gewissen<br />
hat bei Frankl eine zentrale Funktion, denn es enthält die Absicht zur Sinnentdeckung in jeder<br />
Situation und das ethische Vermögen, es ist „die Stimme des Transzendenzbezugs“. Aus seiner Sicht<br />
entspricht dem Bewusstsein eine unbewusste Tiefenperson, das geistig Unbewusste. Dies bedeutet,<br />
dass existenzielle Gewissensentscheidungen zumindest teilweise unbewusst und unreflektiert geschehen.<br />
Der Sinn wird als einmalig und einzigartig bezeichnet. Der Begriff Übersinn deutet an, dass<br />
Frankl nicht bei der Frage nach dem individuellen Sinn des Daseins stehen bleiben will. Übersinn<br />
verweist auf eine darüber hinausreichende, metaphysische Verfassung, wie in Schelers Sicht des einen<br />
und absoluten Geistes. Hier stellt sich die unausweichliche Frage, ob auch ein religiöser Wahrheitsanspruch<br />
behauptet wird. Frankl scheint nur für sich persönlich diesen Übersinn (Transzendenzbezug)<br />
als Glaube an Gott zu verstehen, für die Logotherapie verzichtet er auf diese Festlegung. Wie dieser<br />
Bezug ausgefüllt würde, hinge von den Einzelnen ab. Psychotherapie sei kein Religionsersatz. Die<br />
Logotherapie sei auch für agnostisch oder atheistisch denkende Patienten geeignet; seine eigene religiöse<br />
Einstellung sei nur eine von vielen verschiedenen Weltanschauungen.<br />
Gott als Instanz des Sinns<br />
„Wo die Argumente, die für oder gegen einen letzten Sinn sprechen, einander die Waage halten, wirft<br />
der sinngläubige Mensch das ganze Gewicht seines Menschseins, seiner Existenz, in die Waagschale<br />
und spricht sein ’fiat’, sein ‚Amen’: So sei es – ich entscheide mich dafür, so zu handeln, als ob das