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Menschenbilder - Jochen Fahrenberg

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243 <strong>Menschenbilder</strong>: Psychologische, biologische, interkulturelle und religiöse Ansichten ( J. <strong>Fahrenberg</strong>, 2007)<br />

ches Beispiel ist das „Zusammenfallen der Gegensätze“ in einem Symbol oder einem Traumbild, denn<br />

hier scheinen logische Gesetze oft aufgehoben zu sein, um einen tieferen Sinn auszudrücken. 8<br />

Statt alle genannten Denkwege näher zu beschreiben, konzentrieren sich die folgenden Überlegungen<br />

auf das Prinzip der Komplementarität. Dieses Prinzip ist gewiss keine Lösung für alle in diesem<br />

Buch geschilderten Schwierigkeiten und Widersprüche. Bei einigen der zentralen Gegensätze wie<br />

Theismus und Atheismus kann dieses Prinzip nicht in einer rationalen Weise gebraucht werden, denn<br />

ein Glaubensinhalt und dessen Negation können nicht in einem Verhältnis der Komplementarität stehen.<br />

Bei anderen Gegensätzlichkeiten ist das Komplementaritätsprinzip fruchtbar, zumindest eine<br />

heuristische Perspektive. 9<br />

Bohrs Begriff des Komplementarität und Varianten<br />

Der Physiker Niels Bohr prägte den Begriff Komplementarität für den Sachverhalt, dass das Licht in<br />

bestimmten physikalischen Versuchsanordnungen als Wellenphänomen erscheint, in anderen Versuchsanordnungen<br />

als Teilchenstrahlung. Das Prinzip der Komplementarität war von Bohr als Vermittlungsvorschlag<br />

gemeint: physikalisch handelt es sich jeweils um eigenständige, einander ausschließende<br />

experimentelle Versuchsanordnungen und theoretische Interpretationen, die sich wechselseitig<br />

zum Gesamtbild der Wirklichkeit ergänzen. Für Carl Friedrich von Weizsäcker sind zwei elementare<br />

Aussagen über einen Sachverhalt dann komplementär, wenn sie nicht gleichzeitig entschieden<br />

werden können. Die eine Versuchsanordnung bzw. Methodik verhindert das Auftreten der an die andere<br />

Versuchsanordnung gebundenen Eigenschaften. So besteht abwechselnd eine methodenbedingte<br />

Blindheit für an sich gleichzeitig bestehende Eigenschaften eines Sachverhalts.<br />

Das heutige Verständnis geht von Bohrs Begriffsbildung aus, doch müssen dabei mehrere Varianten<br />

auseinander gehalten werden, um Missverständnisse zu vermeiden. Die Version 1 besagt, dass<br />

eine Komplementarität von Beschreibungen auf derselben kategorialen Stufe besteht. Dies ist bei der<br />

Welle-Korpuskel-Interpretation der Fall, denn beides sind physikalische Konzepte derselben Kategorienstufe.<br />

Bei Version 2 wird eine Komplementarität von Beschreibungen (Beobachtungen) auf kategorial<br />

verschiedenen Stufen behauptet. Bohr nannte hier bereits den Gegensatz von Beobachter und<br />

Beobachtetem (heute auch Erste- und Dritte-Person-Perspektive genannt) sowie das Leib-Seele-<br />

Problem. Version 3 meint Komplementarität als universale Erkenntnishaltung und wissenschaftliches<br />

Programm (nach Bohrs Motto: „contraria sunt complementa” – Gegensätze ergänzen sich).<br />

Gegen die einfache Denkfigur des Sowohl-als-Auch wurden gewichtige Einwände vorgetragen:<br />

nicht jedes Paar von Gegensätzen, jedes logische Paradoxon oder jede Dualität kann als komplementär<br />

bezeichnet werden. Deshalb ist von einem schlichten Sowohl-als-Auch die systematische, d.h. kategorial<br />

und methodologisch präzisierte Fassung, zu unterscheiden. 10 Hier ist nur eine verkürzte Definition<br />

möglich, wobei auch die fortgeschrittene Diskussion und die neuere Begründung des Komplementaritätsprinzips<br />

in der Physik ausgeklammert werden. 11<br />

Komplementaritätsprinzip als Relationsbegriff<br />

Die Behauptung einer Komplementarität stellt einen Zusammenhang zwischen gegensätzlichen Auffassungen<br />

her. Statt eine Entscheidung zwischen diesen Positionen herbeiführen zu wollen, kann eine<br />

epistemische, der Erkenntnis und der Wissenschaftsmethodik dienliche Kombination angestrebt werden,<br />

indem die wechselseitige Ergänzung von kategorial grundverschiedenen Bezugssystemen postuliert<br />

wird. Komplementarität ist ein mehrstelliger (komplexer) Relationsbegriff und bedeutet:<br />

Ä erkenntnisbezogen (epistemologisch) die Verbindung von zwei grundsätzlich verschiedenen Erkenntniszugängen<br />

zu einer ganzheitlichen Auffassung (multi-referenzieller Sichtweise);<br />

Ä kategorial die Eigenständigkeit der zwei Beschreibungssysteme;<br />

Ä methodologisch die operative Geschlossenheit der zwei Beschreibungsweisen bzw. Bezugssysteme<br />

hinsichtlich Methodik, Bestätigungs- und Falsifikationsweisen.<br />

Diese Fassung des Komplementaritätsprinzips wurde in den 1960er Jahren in Anlehnung an Niels<br />

Bohr für die psychophysiologische Forschung ausgearbeitet. Eines der Arbeitsgebiete die sehr verbreiteten<br />

psychovegetativen Gesundheitsstörungen. Der Internist Ludwig Delius hat dargestellt wie z.B.<br />

bei funktionellen (somatoformen) Herz-Kreislaufstörungen die objektiven medizinischen Befunde

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