Menschenbilder - Jochen Fahrenberg
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236 <strong>Menschenbilder</strong>: Psychologische, biologische, interkulturelle und religiöse Ansichten ( J. <strong>Fahrenberg</strong>, 2007)<br />
Die moderne Sicht der Condition humaine bedeutet, dass wir ein Geschlagensein mit Krankheit,<br />
Bedürftigkeit, Leiden, Sterblichkeit, und auch triebhafter Sexualität und Aggressivität nüchtern erkennen<br />
(So lebt der Mensch, André Malraux 1933). Viktor Frankl sprach von der „Tragischen Trias“, d.h.<br />
Schuld, Leid und Tod, die in jedem Leben vorkommen. Jacques Derrida erläuterte in seiner Rede auf<br />
Freud dieses Menschenbild: Ein von Grauenhaftigkeiten freies Leben existiere nirgendwo. Die Psychoanalyse<br />
begreife das Leiden ohne Alibi und ohne vorschnelle Tröstungen durch religiöse Botschaften<br />
und ferne Heilspläne, die nur das Leiden und die Gewalt als vorübergehende Übel klein reden. – In<br />
dieser Einsicht sieht er andererseits eine illusionslose Kraft, denn wir sind auf uns selbst zurückgeworfen<br />
ohne Rettung von außen. 23<br />
Die Debatte, ob die heutige Welt angstfreier oder angstbesetzter als in früheren Jahrhunderten ist,<br />
bleibt müßig und vor allem eine psychologische Projektion der eigenen Befindlichkeit. Da keine<br />
Maßstäbe oder Vergleichsdaten existieren, bleibt es eine empirisch nicht beantwortbare Frage. Wer<br />
wollte die vielfältigen Angstsituationen eines heutigen Menschen vergleichen mit der Verängstigung<br />
eines Menschen im Mittelalter angesichts von Hunger, Elend, Pest, Furcht vor ewiger Verdammnis,<br />
Hexenglauben, ohne Medizin und Fürsorge, mit einer Lebenserwartung von vielleicht 35 oder 40 Jahren?<br />
Zweifellos ist das Wissen über mögliche Risiken durch die sozialwissenschaftliche und naturwissenschaftliche<br />
Forschung extrem vermehrt worden. Es gibt Gesundheitssorgen, Arbeitsplatz- und Rentensorgen,<br />
Zukunftssorgen vielfältiger Art, aber in vielen Ländern auch soziale Sicherungssysteme.<br />
Durch Technik und Naturwissenschaften existieren einerseits mehr Risiken, andererseits mehr Möglichkeiten<br />
der Abwehr bzw. des Schutzes.<br />
Dass es neben Rückschritten und tiefen Enttäuschungen tatsächlich vielfältige Fortschritte hinsichtlich<br />
der Menschenrechte und Lebensbedingungen gibt, ist unbestreitbar. Ist der Prozess der Aufklärung<br />
unaufhaltsam oder ist ein Rückfall in totalitäre Glaubens- und Herrschaftssysteme möglich?<br />
Die unendliche Aufklärung<br />
Kant hat angesichts seiner eigenen Erfahrungen nicht angenommen, dass der Weg der Aufklärung<br />
einfach sein würde. Doch er hat vielleicht gehofft, dass der Denkweg der kritischen Vernunft geradlinig<br />
sein würde. Hier wird die grundsätzliche Skepsis ansetzen, denn der Weg des Denkens ist offensichtlich<br />
vielfältig und widersprüchlich, jedenfalls nicht – unter Regie der kritischen Vernunft – einheitlich<br />
verlaufen. Die unübersehbar vielen Richtungen der heutigen Philosophie belegen dies, ebenso<br />
die seit 200 Jahren andauernde Interpretation von Kants großem Werk. Deshalb ist an Kants Prognose<br />
zu erinnern: „Wenn denn nun gefragt wird: Leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter? so ist die<br />
Antwort: Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung.“ – Es ist eine unendliche Aufgabe, die<br />
sich ununterbrochen und in der Biographie des Einzelnen immer wieder neu stellt.<br />
Vielleicht müssen sich Optimisten und Pessimisten an andere Zeitmaßstäbe gewöhnen, wenn sie<br />
Fortschritte und Rückschritte bewerten. Die Anfänge der kulturellen Entwicklung, der künstlerischen<br />
und vielleicht auch der sprachlichen, liegen vor etwa 30.000 Jahren; erst vor etwa 10.000 Jahren entstanden<br />
größere Gemeinwesen und anschließend städtische Organisationen. Schriftliche Überlieferungen<br />
sind sehr viel später datiert, und erst in der „Achsenzeit“ bedeutender Religionsstifter und großer<br />
Philosophen vor ca. 2.500 Jahren wurden ethische Normen in einer bis heute überzeugenden Weise<br />
formuliert. Welche Entwicklungsschritte, welche Brüche und Katastrophen eintreten können, hat das<br />
älteste noch existierende Staatswesen mit einer der ältesten Kulturen aufgezeigt: China. Hier hatten<br />
schon vor mehr als zweitausend Jahren Kongzi und Mengzi allgemeine Menschenpflichten und fundamentale<br />
Menschenrechte gelehrt und eine Harmonie der gesellschaftlichen Ordnung gefordert.<br />
Revolutionen des Menschenbildes<br />
Wissenschaftliche Revolutionen haben das traditionelle Menschenbild der christlichen Anthropologie<br />
tiefgreifend verändert. Gelegentlich wird von Kränkungen des Menschen gesprochen, denn früher<br />
geglaubte Überzeugungen erwiesen sich als falsch, und der Mensch verlor vieles von der behaupteten<br />
Sonderstellung im Kosmos.<br />
Die Erde ist nicht mehr der Mittelpunkt des Universums, und der Mensch ist ein Teil der biologischen<br />
Evolution (Kopernikus, Galilei, Darwin). Die Annahme einer geistig autonomen Person ist<br />
kaum haltbar, denn der Mensch ist von der Gesellschaftsstruktur und von der eigenen Triebwelt abhängig,<br />
vielfach ohne sich dessen bewusst zu sein (Marx, Freud). Diese oft genannten großen Revolu-