Menschenbilder - Jochen Fahrenberg
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39 <strong>Menschenbilder</strong>: Psychologische, biologische, interkulturelle und religiöse Ansichten ( J. <strong>Fahrenberg</strong>, 2007)<br />
stimmung liest, wird sich fragen, was eigentlich der Unterschied zu Begriffen wie Ich oder Subjekt<br />
oder Bewusstsein ist. Wenn außerdem von einem unbewussten Selbst und einem innersten Kern der<br />
Person die Rede ist, wird die Verständigung noch schwieriger. Eine Definition von „Selbst“, eine<br />
mögliche oder absichtlich vermiedene Abgrenzung vom theologisch-metaphysischen Seelenbegriff<br />
oder eine fachpsychologische Erläuterung, mit welchen psychologischen Methoden die individuellen<br />
Merkmale des Selbst beschrieben werden könnten, geben diese Autoren nicht. Alle psychologischen<br />
Bemühungen um eine genauere Analyse stehen vor zwei grundsätzlichen Schwierigkeiten: der außerordentlichen<br />
Unschärfe des Begriffs Selbst und der Unzulänglichkeit der empirischen Beschreibungsmethoden.<br />
Das Wortfeld Selbst ist außerordentlich umfangreich: das Innerste (Kern, Instanz, Zentrum) des<br />
Bewusstseins und Handelns, Ich (-Bewusstsein), Person, Subjekt, logisches Subjekt der Erfahrung von<br />
Selbst-Identität, transzendentales Subjekt, Seelenprinzip, säkularisierter Ersatzbegriff für den Begriff<br />
der (transzendenten) Seele des Menschen, Lebensprinzip, Entelechie (Wirkprinzip), Agens bzw. agierende<br />
Instanz innerhalb des Menschen. Im allgemeinen Sprachgebrauch sind – auch unter Fachpsychologen<br />
– Selbst, Ich, Person, Persönlichkeit und Individuum nicht verlässlich voneinander abgegrenzt.<br />
Oft ist kaum zu erkennen, ob eine säkularisierte Form des Selbst gemeint ist oder die metaphysische<br />
Form im Sinne des traditionellen christlichen Seelenbegriffs. Wer diesen Missverständnissen<br />
entgehen möchte, wird das Wort Selbst durch Selbstkonzept ersetzen. Damit wird der Anklang an<br />
einen Substanzbegriff (Seele) oder an eine einzige Instanz innerhalb der psychischen Funktionen vermindert.<br />
Falls aber dieses geistige oder metaphysische Selbst oder eine unsterbliches Seelenprinzip<br />
gemeint ist, muss dies zusätzlich gesagt werden, um ein wesentliches Missverständnis zu verhindern. 9<br />
In der Persönlichkeits- und Entwicklungspsychologie werden – um sich überhaupt verständigen<br />
zu können – genauere begriffliche und methodische Differenzierungen gefordert. So wäre im Unterschied<br />
zum Allgemeinbegriff „das Selbst“ aus empirisch-methodischer Sicht besser vom Selbstbild<br />
bzw. Selbstkonzept zu sprechen oder noch besser – in der Mehrzahl – von den Selbstkonzepten, um<br />
die verschiedenen Facetten und Komponenten des individuellen Selbstbildes zu betonen. (Kapitel 8).<br />
Werte und Ziele auf dem Wege der Selbstverwirklichung<br />
Charlotte Bühler erwähnte zwar die Rolle von Werten in verschiedenen Richtungen der Psychotherapie,<br />
ging aber nicht auf mögliche Konflikte oder den Einfluss metaphysischer bzw. religiöser Überzeugungen<br />
wie Christentum oder Atheismus ein. Charakteristisch sind die einfachen Aufzählungen<br />
von Werten und Zielen, um die humanistische Zielsetzung zu beschreiben. So schildert Carl Rogers<br />
stichwortartig, doch ausführlicher als Charlotte Bühler, sein positives Menschenbild und zieht eine<br />
Verbindung zur Psychotherapie:<br />
„Eine der revolutionärsten Einsichten, die sich aus unserer klinischen Erfahrung entwickelt hat, ist<br />
die wachsende Erkenntnis: der innerste Kern der menschlichen Natur, die am tiefsten liegenden<br />
Schichten seiner Persönlichkeit, die Grundlage seiner tierischen Natur ist von Natur aus positiv – von<br />
Grund auf sozial, vorwärtsgerichtet, rational und realistisch. ... Religion, vor allem die protestantische<br />
christliche Tradition, hat unsere Kultur mit der Grundansicht durchdrungen, dass der Mensch im<br />
Wesen sündhaft ist, und dass sich seine sündhafte Natur nur durch etwas, was einem Wunder nahe<br />
kommt, negieren läßt. Freud und seine Jünger haben im Bereich der Psychologie überzeugende Argumente<br />
vorgelegt, dass das Es, des Menschen grundlegende und unbewußte Natur, primär aus Instinkten<br />
besteht, die, wenn sie zum Ausdruck gelangten, zu Inzest, Mord und anderen Verbrechen führen<br />
würden. Das ganze Problem der Therapie, wie diese Gruppe sie sieht, besteht darin, wie man diese<br />
ungezähmten Kräfte auf eine gesunde und konstruktive Art und Weise im Zaum halten kann, anstatt<br />
sie sich kostspielig neurotisch ausagieren zu lassen. Aber die Vorstellung, dass der Mensch im Inneren<br />
irrational, unsozial, sich und andere zerstörend ist – dieses Konzept wird praktisch fraglos hingenommen<br />
...<br />
Wenn ich auf die Jahre meiner klinischen Tätigkeit und Forschung zurückblicke, scheint mir, daß<br />
ich nur sehr langsam den Fehler in diesem populären und auch wissenschaftlich anerkannten Konzept<br />
erkannt habe. Der Grund liegt, scheint mir, in der Tatsache, daß man in der Therapie andauernd<br />
feindliche und antisoziale Gefühle aufdeckt; dadurch fällt es leicht anzunehmen, daß man hier die<br />
tiefere und darum grundlegende Natur des Menschen sieht. Es ist nur langsam offenkundig geworden,