Menschenbilder - Jochen Fahrenberg
Menschenbilder - Jochen Fahrenberg
Menschenbilder - Jochen Fahrenberg
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
21 <strong>Menschenbilder</strong>: Psychologische, biologische, interkulturelle und religiöse Ansichten ( J. <strong>Fahrenberg</strong>, 2007)<br />
ten durch die primären Triebe und unbewussten Konfliktlagen determiniert ist. Willensfreiheit ist eine<br />
Illusion, denn die maßgeblichen Bedingungen, einschließlich der verinnerlichten kulturellen Normen,<br />
sind unbewusst. Der Spielraum, der für ein rationales und freies Abwägen von Handlungsalternativen<br />
besteht, ist minimal und bei neurotischen Störungen kaum noch vorhanden. Freuds Annahmen entsprechen<br />
in vieler Hinsicht dem Menschenbild jener heutigen Neurowissenschaftler, die ein biologisches<br />
Menschenbild vertreten.<br />
Philosophischer und biographischer Hintergrund<br />
Eine kurze Biographie Freuds, wie auch der anderen Psychotherapeuten, steht im Anhang des Buches.<br />
– Die pessimistische Anthropologie Freuds ist, ähnlich wie bei Arthur Schopenhauer, auch vor dem<br />
Hintergrund eigener Lebenserfahrungen, Elternkonflikte, schwieriger beruflicher Laufbahn,<br />
Zerrissenheit zwischen konträren Kulturwelten und einer persönlich anscheinend belastenden<br />
Sexualität zu sehen. Schopenhauer hatte vieles gedanklich vorweggenommen, was Freud dann mit<br />
seiner neuen Methodik psychologisch ausgefüllt und systematisiert hat. In den Grundgedanken gibt es<br />
auffällige Gemeinsamkeiten (z.B. unbewusste Prozesse, blinder Trieb, Tod als eigentliches Ziel des<br />
Lebens) und wichtige Unterschiede, so ist der Wille für Schopenhauer eine geheime und unerklärliche<br />
Macht, während Freud einen Dualismus von Eros und Thanatos (Todestrieb) sah. 9<br />
Die Katastrophe des ersten Weltkriegs wird beigetragen haben, wenn Freud, im Jahr 1920, den<br />
schon vorher von dem Psychoanalytiker Wilhelm Stekel und von Sabina Spielrein vorgeschlagenen<br />
Begriff Todestrieb übernahm und ausgestaltete: Vielleicht waren biographische Einflüsse, die jahrzehntelang<br />
ertragene, schmerzhafte und tödliche Krebskrankheit, beteiligt. Freuds skeptische Weltsicht<br />
könnte auch durch seinen schwierigen beruflichen Weg mit vielen Anfeindungen, seine isolierte<br />
Rolle an der Universität sowie durch die problematischen Schicksale vieler Patienten beeinflusst sein.<br />
Aus heutiger Sicht, nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust, werden viele umso mehr von<br />
Freuds Schilderung der Aggressivität und Destruktivität des Menschen beeindruckt sein.<br />
Aggression und Krieg<br />
Albert Einstein fragt zu Beginn seines Briefwechsels mit Freud zum Thema „Warum Krieg?“ im Jahr<br />
1933, ob es einen Weg gebe, die Menschen von dem Verhängnis des Krieges zu befreien. Einstein<br />
äußerte zugleich die Überzeugung, dass eine starke internationale Behörde dazu vielleicht in der Lage<br />
sein könnte. Freud antwortet mit Erläuterungen zum Todes- und Destruktionstrieb des Menschen und<br />
schrieb:<br />
„Wenn die Bereitwilligkeit zum Krieg ein Ausfluß des Destruktionstriebes ist, so liegt es nahe, gegen<br />
sie den Gegenspieler dieses Triebes, den Eros, anzurufen. Alles, was Gefühlsbindungen unter den<br />
Menschen herstellt, muß dem Krieg entgegenwirken.“ ... „Den psychischen Einstellungen, die uns der<br />
Kulturprozeß aufnötigt, widerspricht nun der Krieg in der grellsten Weise, darum müssen wir uns<br />
gegen ihn empören, wir vertragen ihn einfach nicht mehr, es ist nicht bloß eine intellektuelle und affektive<br />
Ablehnung, es ist bei uns Pazifisten eine konstitutionelle Intoleranz, eine Idiosynkrasie gleichsam<br />
in äußerster Vergrößerung.“ ... „Wie lange müssen wir nun warten, bis auch die anderen Pazifisten<br />
werden? Es ist nicht leicht zu sagen ...“ (Warum Krieg? Brief an Albert Einstein, 1933) 10<br />
An anderer Stelle heißt es: „Die Schicksalsfrage der Menschenart scheint mir zu sein, ob und in<br />
welchem Maße es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, der Störung des Zusammenlebens durch den<br />
menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden.“ 11<br />
Freud warnte vor Selbsttäuschungen und Illusionen. Seine pessimistische Voraussicht und Einschätzung<br />
des kommenden Unheils, seine Sicht der Risiken des Kommunismus und anderer Ideologien sind<br />
in dieser Dringlichkeit wohl nur von wenigen Denkern seiner Zeit erreicht worden. Nach Katastrophen<br />
in bisher nie gekanntem Ausmass, nach dem Zweiten Weltkrieg, der unvergleichlichen<br />
nationalsozialistischen Judenvernichtung, nach Hiroshima und dem Archipel Gulag, drängt es sich auf,<br />
neu zu lesen, was Freud über den Destruktions- und Todestrieb des Menschen geschrieben hat.<br />
Als Freud 1938 im Londoner Exil starb, hatte er, klarer als die meisten Denker seiner Zeit, den<br />
Abgrund erkannt. So hat der französische Philosoph Jacques Derrida in einer 2002 gehaltenen Rede<br />
über Grausamkeit, Herrschaft und Widerstand auf die zentrale Rolle des Leidens und der Destruktion