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Menschenbilder - Jochen Fahrenberg

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86 <strong>Menschenbilder</strong>: Psychologische, biologische, interkulturelle und religiöse Ansichten ( J. <strong>Fahrenberg</strong>, 2007)<br />

den sein. Das Gehirn ist ein lebenslanger Bauplatz mit dem ständigen Aufbau von Verbindungen und<br />

dem Abbau der ungenutzten „Verdrahtungen“. Es gibt die massive Parallelverarbeitung und die Auslegung<br />

in mehrfach abgesicherten und rückgekoppelten neuronalen Systemen, in denen die Signalübertragung<br />

in multiplen Transmitter-Systemen, d.h. nebeneinander bestehenden, vielfältigen Übertragungen,<br />

erfolgt. Ist nicht der Wunsch nach einer Computersimulation des lebendigen Gehirns, dieses<br />

kompliziertesten Systems in unserem Universum, auf lange Sicht hoffnungslos?<br />

Das Gehirn und seine Innenansicht: Bewusstsein in Neuronennetzen, aber keine Seele<br />

Aus der heutigen Sicht der Neurowissenschaften gibt es im Gehirn kein höchstes Zentrum, in dem<br />

sämtliche Vorgänge des Wahrnehmens, Fühlens, Denkens und Wollens zusammenlaufen und in einem<br />

bewussten Ich repräsentiert sind.<br />

„Die Frage nach der Natur und dem Sitz der Seele hat Theologen, Philosophen und Wissenschaftler<br />

gleichermaßen beschäftigt, seit Menschen begonnen haben über sich selbst nachzudenken. Alle großen<br />

Religionen haben irgendeine Art von Seelenlehre entwickelt, ebenso haben alle großen Philosophen zu<br />

Natur und Ort der Seele Stellung genommen. Seit der Antike bis in das zwanzigste Jahrhundert hinein<br />

waren die Hirnforscher auf der Suche nach dem Sitz der Seele im Nervensystem, und ohne diese intensive<br />

Suche wären die großen Fortschritte in der Hirnforschung nicht möglich gewesen. Erst in der<br />

zweiten Hälfte des soeben zu Ende gegangenen 20. Jahrhunderts kam diese Frage gründlich außer<br />

Mode, und die Versuche des Neurophilosophen John Eccles, immerhin Nobelpreisträger für Physiologie,<br />

den Begriff des unsterblichen Geistes und der unsterblichen Seele mit der modernen Hirnforschung<br />

in Verbindung zu bringen, wurden und werden von Neurobiologen, Psychologen und auch den<br />

meisten Philosophen belächelt.“<br />

„Den mittelalterlichen und neuzeitlichen Kernbegriff der Seele, nämlich ein unstoffliches und unsterbliches<br />

Wesen als Träger von Bewusstsein, Ich, Empfindungen, Gefühlen und Wille, hat man in der<br />

modernen Hirnforschung entweder ganz gestrichen, indem man die Meinung vertritt, dies alles seien<br />

sogenannte höhere Hirnfunktionen, oder man nimmt sie ganz aus dem Gehirn heraus, wie dies bereits<br />

Descartes getan hat, und schreibt ihr eine eigene, nichtmaterielle, nichtneuronale Existenz zu, die<br />

jedoch die Eigenschaft hat, auf das Gehirn einzuwirken und ebenso vom Gehirn beeinflusst zu werden.<br />

Letzteres glauben nach wie vor die meisten Theologen und Philosophen. Die Seele hat freilich in beiden<br />

Fällen keinen Ort, einmal weil es sie gar nicht gibt, ein andermal, weil sie immateriell ist und<br />

deshalb nirgendwo angesiedelt werden kann. Das Seelische wird heute meist durch den Begriff des<br />

Psychischen ersetzt, was eigentlich eine genaue Übersetzung ist, aber weniger problematisch klingt“.<br />

(Roth, Hat die Seele in der Hirnforschung noch einen Platz? 2001). 3<br />

„Bewusstsein als Sphäre des Sprachlich-Berichtbaren – so einige Hirnforscher – ist der ‚große<br />

Interpret’ von etwas, was ihm weitgehend verschlossen ist, nämlich von den eigentlichen Antrieben<br />

unseres Handelns. Bewusstsein und Ich – so scheint es – sind nicht der Herr im Hause, sondern nützliche<br />

Konstrukte, die das Gehirn einsetzt, wenn es mit neuen, wichtigen, komplexen Problemen seiner<br />

natürlichen und insbesondere sozialen Umwelt konfrontiert ist.“ 4<br />

Dass unser Bewusstsein und Verhalten eine biologische Basis im Gehirn haben, ist nicht gerade neu.<br />

Aber ist es überhaupt möglich, diese Annahme empirisch zu widerlegen? Folgt aus der Messung eines<br />

erhöhten Sauerstoffverbrauchs bei einer Rechenaufgabe zwingend, dass jeglicher geistige Vorgang<br />

Sauerstoff und Glucose braucht? Solche Überlegungen können zumindest die Begriffe schärfen, denn<br />

der Sprachgebrauch ist oft unklar. Bedeutet „geistig“ einen grundsätzlich an das lebende Gehirn gebundenen<br />

Vorgang, der bewusst oder bewusstseinsfähig ist und sprachlich mitgeteilt werden kann?<br />

Oder ist etwas „geistig“, wenn es gerade nicht körperlich an das Gehirn gebunden ist und wenn es<br />

nicht mit dessen Tod untergeht?<br />

Falls die Hirnprozesse letztlich – nur – Biophysik und Biochemie sind, weshalb entstand dann in<br />

der biologischen Evolution das Bewusstsein? Könnten nicht das intelligente Lösen von Problemen und<br />

selbst die Sprache des Menschen im Prinzip physikalisch und computer-mäßig funktionieren, ohne<br />

dem Gehirn bewusst zu werden? Die Grundfrage nach dem Bewusstwerden eines Teils der neuralen<br />

Erregungsmuster führt in spekulative Überlegungen, wann dies in der Evolution erstmals aufgetreten<br />

ist und welchen speziellen Anpassungswert dieser Evolutionsschritt haben könnte. Worin liegt darwi-

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