Menschenbilder - Jochen Fahrenberg

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245 Menschenbilder: Psychologische, biologische, interkulturelle und religiöse Ansichten ( J. Fahrenberg, 2007) nen Kategoriensysteme und Gültigkeitskriterien hervorgehoben. Das Komplementaritätsprinzip würde eine ausdrückliche Begründung verlangen, wenn eines der beiden Bezugssysteme im konkreten Forschungsfall nicht genutzt wird. Für die Methodenlehre der Psychologie und Neuropsychologie bedeutet dies die Kombination der verhaltenswissenschaftlichen und der biologischen Methoden gleichberechtigt mit den introspektiven und bewusstseinspsychologischen Methoden. Nicht entweder physiologische Funktions- und Verhaltensmessungen oder Selbstberichte und Selbstbeurteilungen, sondern eine zielstrebige Nutzung beider Erkenntniswege. Beide Methodengruppen sind für viele Fragestellungen unentbehrlich; ein Verzicht bedeutete wirklich „methodische Blindheit“. Das Komplementaritätsprinzip in der Philosophischen Anthropologie In der Philosophischen Anthropologie ist das Komplementaritätsprinzip bisher noch kaum gründlich diskutiert worden. Deshalb sind hier die neueren Arbeiten von Hans-Ulrich Hoche wesentlich. Seine linguistischen, logischen und phänomenologischen Studien präzisieren diesen „dritten Weg jenseits von Dualismus und Monismus“. Von der Unterscheidung zwischen den Perspektiven der ersten Person und der dritten Person ausgehend wird untersucht, was damit gemeint sein kann, dass sich z.B. visuelle Wahrnehmung und Seh-Physiologie in „demselben“ Vorgang bestehen. Wie können sich einander ausschließende Methodenzugänge bzw. Auffassungen auf Ein- und Dasselbe beziehen? 17 Hoche holt in seiner Diskussion der philosophischen Konzeptionen des Bewusstseins weit aus und setzt sich dabei u.a. mit Husserls Auffassungen und mit Max Velmans reflexivem Modell des Bewusstseins auseinander. Die sprachanalytischen und philosophischen Untersuchungen führen zu dem Schluss: Wir sollten nicht davon sprechen, dass sich die Erste-Person-Perspektive und die Dritte- Person-Perspektive auf ein- und dasselbe Objekt beziehen, als ob dieses Objekt zwei Aspekte bzw. zwei Seiten habe. Der bewussten Person ist zu jedem Zeitpunkt entweder nur die eine oder die andere Erfahrung möglich, niemals beide zugleich. Die Zwei-Aspekte-Lehre setze voraus, dass jemand von außerhalb der uns zugänglichen Erscheinungen, sozusagen ein allwissender Gott, eine höhere Sicht auf beide Seiten einnehmen könne. Die Behauptung einer Einheit würde verlangen, eine als real gedachte Verbindung zu postulieren, und müsste damit in die bekannten Schwierigkeiten aller monistischen und dualistischen Konzeptionen führen. Statt ein- und dieselbe Entität mit zwei numerisch verschiedenen Seiten zu behaupten, wird im Sinne des Komplementaritätsprinzips die Existenz zweier grundverschiedener Perspektiven angenommen. Weder sind es zwei Perspektiven auf dieselbe Entität noch sind es Perspektiven auf zwei numerisch verschiedene Entitäten. Diese eigentümliche Beziehung wird von Hoche als anthropologische Komplementarität bezeichnet. Im Kapitel zum Gehirn-Bewusstsein-Problem wurde bereits geschildert, dass eine komplementäre, d.h. metaphysisch neutrale Auffassung dieses schwierigen Problems – im Unterschied zum Monismus und zum Dualismus und ihren verschiedenen Weiterentwicklungen – die größere Akzeptanz und größere methodologische Fruchtbarkeit haben könnte. Das zweite Beispiel ist die Kontroverse über die Willensfreiheit. Der Widerspruch zwischen der geschlossenen Kausalität der Hirnprozesse und dem Bewusstsein der grundsätzlichen Willensfreiheit scheint unaufhebbar zu sein. Auch hier kann das Komplementaritätsprinzip beides verbinden, die Beschreibung der kategorial eigenständigen, einander ausschließenden und doch zusammengehörigen Bezugssysteme: die neurophysiologischen Mechanismen und die ich-bewussten Entscheidungen. Das Gehirn-Bewusstsein-Problem und das Problem des freien Willens entsprechen sich in den Grundzügen, denn die monistischen und die dualistischen Interpretationen sind gleichermaßen unbefriedigend. Beide Probleme werden oft einseitig diskutiert, d.h. entweder nur bewusstseinspsychologisch oder nur naturalistisch, statt die psychophysischen Prozesse umfassend zu begreifen. Das Komplementaritätsprinzip kann hier die notwendige Ergänzung beider Beschreibungssysteme zum Gesamtbild genau fordern. Auf Erkenntnisprobleme dieser eigentümlichen Beziehung von Gehirn und Bewusstsein sollte das Komplementaritätsprinzip (abgesehen von der elementaren Bedeutung wie bei der Welle-Korpuskel-Interpretation des Lichtes) begrenzt bleiben. Hoches strengere Fassung der Komplementarität der Perspektiven der ersten und der dritten Person hat den Vorzug der Prägnanz, die breitere Konzeption der psychophysiologischen Komplementarität dagegen den heuristischen Nutzen, geeignete Forschungsstrategien zu strukturieren.
246 Menschenbilder: Psychologische, biologische, interkulturelle und religiöse Ansichten ( J. Fahrenberg, 2007) Komplementarität bedeutet hier kein bloßes Nebeneinander von Möglichkeiten, sondern eine geordnete Beziehung mit klarer Unterscheidung der Kategorien und der methodischen Besonderheiten. In der einfachen Zwei-Aspekte-Lehre wäre es beliebig, welche der beiden Ansichten ausgewählt wird. Komplementarität heißt dagegen, dass jedes der zwei Beschreibungssysteme auf seine Weise vollständig ist, aber dennoch nur einen Teil bildet in der umfassenden Beschreibung von Geistigkeit und Natur des Menschen.
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