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Menschenbilder - Jochen Fahrenberg

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204 <strong>Menschenbilder</strong>: Psychologische, biologische, interkulturelle und religiöse Ansichten ( J. <strong>Fahrenberg</strong>, 2007)<br />

Religion und Staat gefordert, als Voraussetzung einer pluralistischen Gesellschaft und einer friedlichen<br />

demokratischen Entwicklung.<br />

Ohne statistische Daten vorweisen zu können, wird von einer Verlagerung der religiösen Bedürfnisse<br />

in neue und esoterische Strömungen gesprochen (Kapitel 17). Vor diesem Hintergrund und als<br />

Ausweg aus dem oft verwirrenden Pluralismus der heutigen Welt kann sich die Idee eines Umschwungs<br />

und einer neuen religiösen Sinngebung entwickeln. – Für andere Menschen ist dieser behauptete<br />

Trend eher beängstigend, weil Denkverbote und Gehorsamspflichten, eingeschränkte Meinungs-<br />

und Glaubensfreiheit erinnert werden. Die elegante Doppelformel von Glauben und Vernunft<br />

und ihrer wechselseitigen Bereicherung könnte (mit der vermutlich gemeinten Hierarchie Dogma über<br />

Vernunft) tatsächlich eine Rückkehr zur alten Wertordnung und zum Wertemonopol der christlichen<br />

Kirchen verbergen.<br />

Geht in einer irgendwie zyklisch verlaufenden Bewegung vielleicht eine Zwischenphase der Säkularisierung<br />

und des weltanschaulichen Pluralismus zu Ende? Die sich wiederholenden Einwände<br />

lauten: Ist es nicht klar, dass „die Vernunft“ unsere menschlichen Probleme nicht lösen konnte? Die<br />

Vernunft kann noch nicht einmal eine sichere Grundlage der Ethik schaffen. Das kann nur die Religion.<br />

Kardinal Lehmann: „Mit Macht (sic) ist die Religion auf die globale Bühne zurückgekehrt.“<br />

Gibt es nicht auch in den Naturwissenschaften unbewiesene Voraussetzungen? Was wird dort alles<br />

bedingungslos geglaubt? Wo liegen überhaupt die Unterschiede zwischen der Naturwissenschaft<br />

und dem Glauben an religiöse Phänomene, wenn sogar ein bekannter Philosoph wie Paul K. Feyerabend<br />

darauf verwiesen hat: „anything goes“? Feyerabend hatte allerdings mit seiner prinzipienlosen<br />

„anarchistischen“ Erkenntnistheorie vor allem provozieren wollen und kreative Ideen zur Befreiung<br />

von einem zu starren Methodenzwang gefordert. Weder hat er dies in eigener Forschung demonstriert,<br />

noch hat er diese lustvollen Provokationen hinsichtlich der Berufsethik, der praktischen Konsequenzen<br />

und möglichen Schäden zu Ende gedacht. Immerhin können sich heute Anhänger der Esoterik und der<br />

Psychosekten, einschließlich des von Feyerabend genannten Hexenkults und der Voodoo-Zauberei,<br />

auf seine Provokationen berufen. 14<br />

Besonders missverständlich ist die verbreitete Angewohnheit, die zwei nicht zusammenpassenden<br />

(inkommensurablen) Denksysteme „Glauben und Vernunft“ auf „Religion und (Natur-) Wissenschaft“<br />

einzuengen. Eine typische Argumentation beginnt mit der zutreffenden Behauptung, (Natur-)<br />

Wissenschaft könne aus sich heraus keine ethischen Normen begründen, keine Wertordnungen<br />

ableiten und keine Sinnfragen nach dem Warum und Wohin, d.h. nach dem Zweck der Evolution des<br />

Lebens, beantworten. Daran schließt sich die falsche Behauptung an, nur die Religion könne diese<br />

Aufgabe erfüllen und Antworten geben. Deshalb sei Religion eine unverzichtbare Grundlage der menschlichen<br />

Existenz, wobei diese Behauptung eventuell noch durch das Urteil ergänzt wird, gottlose<br />

oder religionslose Menschen könnten keine sichere Begründung für ethische Normen geben – oder sie<br />

könnten in dem zwangsläufig entstehenden Pluralismus und Relativismus überhaupt keine ethischen<br />

Normen mehr haben. In dieser kurzschlüssigen Argumentation wird einfach übergangen, dass zwar<br />

nicht aus den (Natur-)Wissenschaften, wohl aber aus der kritischen Vernunft ethische Normen und<br />

Sinngebungen entwickelt werden können – wie es u.a. Kant gezeigt hat.<br />

Die erwähnten Leitartikel blieben diffus: ist nun Religion im Sinne der alleinigen Kirche gemeint,<br />

eine Mystik im Sinne Drewermanns, eine bunte Esoterik, unterlegt mit Aberglauben, oder religiöse<br />

Freigeisterei jeglicher Art? Was könnten jene Journalisten und Politiker bei der Wiederentdeckung<br />

der Religion meinen: die Re-Christianisierung des Abendlandes ähnlich der evangelikalen Mission?<br />

Was meinen die Bischöfe und Leitartikler bloß mit Einheit von Glauben und Vernunft, wenn es<br />

nüchtern betrachtet weder eine Einheit der christlichen Konfessionen, noch ein einheitliches philosophischen<br />

Denken über den Logos gibt?<br />

In den Kommentaren zur Rückkehr der Religion und zu den christlichen Wurzeln ist selten davon<br />

die Rede, was mit dieser früheren Wertordnung alles verbunden war. Deshalb kann nur in Frageform<br />

spekuliert werden, zu welchen Einschränkungen es kommen könnte, wenn die „materialistische“ Vernunft<br />

und die Naturwissenschaft „durch den Glauben gereinigt“ werden und die kürzlich erlassene<br />

Theologeninstruktion und Gehorsamkeitsforderung von den Theologen auf alle katholischen Wissenschaftler<br />

erweitert würde. Die folgenden Übertreibungen sind ironisch gemeint, um die ungeahnten<br />

Risiken des geforderten Wertewandels bzw. der Totalität von Glauben, Vernunft und Wissenschaft zu<br />

unterstreichen.

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