Menschenbilder - Jochen Fahrenberg
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192 <strong>Menschenbilder</strong>: Psychologische, biologische, interkulturelle und religiöse Ansichten ( J. <strong>Fahrenberg</strong>, 2007)<br />
Zu Recht kann eingewendet werden, dass sehr oft andere, politische und wirtschaftliche Absichten<br />
mitgespielt haben, z.B. bei den heiligen Kreuzzügen oder bei der gewalttätigen Heidenmission.<br />
Außerdem muss zwischen der neutestamentlichen Lehre Jesu, der Institution Kirche und dem Fehlverhalten<br />
und den Verbrechen einzelner Amtsträger und Personen unterschieden werden. „Menschen der<br />
Kirche“ hätten das getan, was dem Evangelium nicht entspricht, aber die „Kirche in ihrer Wahrheit“<br />
nicht. Die moralischen Beurteilungen verlangen also historische Kenntnisse und Differenzierungen,<br />
und pauschale Urteile sind nicht angebracht. Was Hass, Grausamkeit und Vergehen gegen die Menschlichkeit<br />
sind, und deshalb im Widerspruch zur Bergpredigt stehen, war mitfühlenden Beobachtern,<br />
wie die historischen Überlieferungen lehren, durchaus geläufig. Die geschehenen Untaten sind also<br />
keinesfalls durch Hinweis auf noch unzureichend entwickelte ethische Normen zu relativieren.<br />
Unter religionswissenschaftlicher und psychologischer Perspektive wurde deshalb gefragt, ob<br />
vielleicht doch tiefer reichende Zusammenhänge zwischen der dogmatischen Glaubenslehre und dem<br />
Gewaltpotenzial bestehen könnten, die typisch für monotheistische Religionen sind. Oder sind allein<br />
die Einzelnen für Gehorsam, Intoleranz und Gewalttätigkeit im Namen der Religion verantwortlich?<br />
Bevor dieses schwierige Thema weiter verfolgt wird, sind andere Brennpunkte der Kirchen- und Religionskritik<br />
hervorzuheben. Dies geschieht nicht der Geschichte oder der bloßen Kritik zuliebe, sondern<br />
als beispielhafte Erläuterung, wie die heutigen Menschenrechte errungen wurden.<br />
Für viele der schreibenden Gelehrten, für unabhängig denkende Philosophen, Dichter und Zeitungsleute<br />
werden die Unterdrückung der Glaubens- und Meinungsfreiheit, d.h. die Inquisition und die<br />
Zensurbehörden, eine entscheidende Rolle gespielt haben. Andere Bevölkerungsschichten werden<br />
primär unter dem sozialen Elend und den Kriegen gelitten haben, und die Ketzerverfolgung und andere<br />
Religionskriege verwüsteten weite Regionen Europas.<br />
Als Brennpunkte der Aufklärung werden hier, neben der Zensur und den Konflikten mit der Kirchenautorität,<br />
Ketzerei und Inquisition, Dämonen und Hexenverfolgung ausgewählt. Die Dämonen<br />
und die Hexerei sind heute für viele Christen kein Thema mehr, sondern längst vergangene „mittelalterliche“<br />
Irrtümer und traurige Geschehnisse. Der Glauben an Dämonen und Engel ist jedoch keineswegs<br />
verschwunden, wie Umfragen zeigen, und auch in Deutschland und Österreich wird, allerdings<br />
selten, der Exorzismus zur Austreibung von Dämonen mit kirchlicher Erlaubnis praktiziert.<br />
Diese Erinnerungen leiten zur skeptischen Sicht auf heutige Verhältnisse über. Gibt es nicht weiterhin<br />
Konflikte zwischen der evangelischen bzw. katholischen Kirche und dem Laizismus, d.h. die<br />
Forderung nach strikter Trennung von Kirche und Staat und nach der Zurückweisung aller kirchlichen<br />
Einflussnahme auf die Grundrechte der Andersdenkenden? Wertkonflikte aufgrund religiöser und<br />
moralischer Überzeugungen können sehr viel komplizierter verlaufen als gewöhnliche Interessenkonflikte,<br />
bei denen sich verschiedene Formen des Ausgleichs oder der Abstimmung bewährt haben. Im<br />
vorausgegangenen Kapitel wurden solche Wertkonflikte zwischen religiöser und laizistischer Überzeugung<br />
geschildert, um aufzuzeigen, dass Pluralismus und Toleranz längst noch keine Selbstverständlichkeiten<br />
sind.<br />
Zensur<br />
Aufklärung verlangt Mut, betonte Kant. Die zitierten Sätze über Aufklärung standen 1784 in der Berliner<br />
Monatsschrift. Damals regierte noch der 72-jährige Friedrich der Große, der sich, zumindest in<br />
religiösen Fragen, durch ungewöhnliche Toleranz auszeichnete. So kann der Zeitungsartikel als vorausschauende<br />
Sorge verstanden werden, dass dieser relativen geistigen Freiheit bald theologische<br />
Grenzen gesetzt werden könnten. Kant sympathisierte zwar mit den anfänglichen Zielen der französischen<br />
Revolution und mit Jean-Jacques Rousseau, dessen Porträt als einziges Bild in seinem Arbeitszimmer<br />
hing, war aber kein politischer Mensch mit republikanisch-revolutionären Absichten. Der<br />
Bogen wäre zweifellos überspannt worden, wenn Kant, außer der selbst-verschuldeten Unmündigkeit,<br />
noch energischer die Rolle der Vormünder, der Zensur und der Obrigkeit kritisiert hätte. Er schrieb<br />
jedoch den Satz: „Und wenn alles was man sagt, wahr sein muss, so ist darum nicht auch Pflicht, alle<br />
Wahrheiten öffentlich zu sagen.“ Sein Konflikt mit der Obrigkeit kam auf andere Weise zustande.<br />
Seine Schrift Über das radikal Böse in der menschlichen Natur (1792) trug ihm eine Abmahnung der<br />
Zensurbehörde ein, und ein Jahr später führte die Schrift Die Religion in den Grenzen der bloßen Vernunft<br />
zu einer zweiten Abmahnung mit der Androhung von Konsequenzen. 6 Der Vatikan setzte die<br />
Kritik der reinen Vernunft allerdings erst Jahre nach Kants Tod auf den Index verbotener Bücher. Zen-