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Menschenbilder - Jochen Fahrenberg

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128 <strong>Menschenbilder</strong>: Psychologische, biologische, interkulturelle und religiöse Ansichten ( J. <strong>Fahrenberg</strong>, 2007)<br />

das westeuropäische Denken, u.a. auf Thomas von Aquin. Ibn Rush, der kenntnisreiche Vermittler der<br />

aristotelischen Philosophie, war von der Unsterblichkeit des Geistes überzeugt, wies aber – wie Aristoteles<br />

– die Idee einer unsterblichen individuellen Seele zurück. Er trat für eine weithin autonome<br />

Philosophie neben der Religion ein und gilt heute als der erste große, aber den Strenggläubigen unterlegene<br />

und vergessene Aufklärer im Islam. Im Unterschied zur Geschichte des Christentums gab es im<br />

Islam keine grundsätzliche Abwehr der modernen Wissenschaftsentwicklung; islamische Gelehrte und<br />

Ärzte hatten einen kaum zu überschätzenden Anteil an der Überlieferung und an der kreativen Weiterentwicklung<br />

der griechischen Philosophie, Medizin und Naturwissenschaften.<br />

Als Sufismus wird eine esoterische, auf Meditation unter Anleitung eines spirituellen Meisters<br />

ausgerichtete Praxis im Dienste der mystischen Vereinigung mit Gott bezeichnet. Diese Strömung, aus<br />

denen Bruderschaften und Orden entstanden, fand inzwischen auch in Europa Anhänger. Neben der<br />

Orthodoxie und ihren fundamentalistischen Strömungen entwickelten sich zahlreiche eigenständige<br />

Richtungen wie die Aleviten sowie andere Gruppen, darunter auch mehrheitlich abgelehnte oder als<br />

ketzerisch verurteilte religiöse Gemeinschaften.<br />

Neben dem Koran existiert kein eigenständiger Katechismus mit theologischen Definitionen oder<br />

einer Zusammenfassung des Dogmas (kein Credo), und es gibt keine allgemein verbindliche religiöse<br />

Autorität wie den Papst oder die Konzilien der katholischen Kirche. Ohne die notwendigen Unterscheidungen<br />

von dem Islam zu sprechen, ist folglich ebenso richtig oder falsch, wie über das Christentum<br />

zu reden.<br />

Die Scharia und der Dschihad<br />

Scharia ist der Oberbegriff für islamische Rechtssysteme, die sowohl religiöse als auch weltliche<br />

Themen betreffen. Die Scharia kann nur zum Teil als ein islamisches Gesetzbuch im westlichen Sinne<br />

einer genau kodifizierten Sammlung angesehen werden. Religiöse Überzeugungen und Alltagsleben<br />

sind so eng verknüpft, dass kaum zwischen beiden Bereichen getrennt werden kann. Da es traditionell<br />

eine schiitische und vier sunnitische Rechtsschulen gibt, kann ohnehin nicht von einer einheitlichen<br />

islamischen Rechtsordnung gesprochen werden. Wesentlich sind bestimmte Fatwas, d.h. religiöse<br />

Rechtsgutachten und Lehrentscheidungen, die sich auf Koran und Sunna stützen. Da es in der Mehrheitskonfession<br />

der Sunniten keinen Klerus und keine einzelne höchste Autorität gibt, kann es geschehen,<br />

dass nationale oder lokale Religionsgelehrte unterschiedliche Fatwas zu einer Rechtsfrage geben.<br />

Auch der vielzitierte Begriff Dschihad ist äußerst missverständlich, denn er ist im Koran nicht<br />

eindeutig erklärt. Das „Bemühen auf dem Wege Gottes“ gilt zwar als ein wesentlicher Glaubensgrundsatz,<br />

doch reicht das breite Spektrum von Bedeutungen vom inneren Kampf des Sufis gegen niedere<br />

Motive über den „Einsatz für den Glauben und das Gute“ bis zur die Missionstätigkeit und sogar so<br />

weit, dass der Krieg gegen Nichtmuslime verdienstvoll sei. Dschihad der Zunge, der Feder und des<br />

Schwerts. Die Quellen sprechen dafür, dass Mohammed nicht nur defensiv, sondern in mehreren Fällen<br />

auch aggressiv Krieg geführt hat (die oft zitierten Suren 2, 193 bzw. Sure 9, 123 sollen sich jedoch<br />

auf Reaktionen nach Verrat bzw. Bruch von Vereinbarungen beziehen).<br />

Der Begriff Dschihad erhielt zunehmend die Bedeutung eines Heiligen Krieges gegen Nicht-<br />

Muslime. Diese Entwicklung steht natürlich auch im Zusammenhang mit den vielen Kreuzzügen (heiligen<br />

Kriegen) der Christen oder ist z.T. Reaktion auf die Missionierung und die Kolonialisierung<br />

muslimischer Länder, die bis ins 20. Jahrhundert andauerten. In neuerer Zeit verbreiteten sich offensive<br />

Dschihad-Lehren (u.a. von Sayyid Qutb bzw. der ägyptischen Muslimbrüderschaft), und Extremisten<br />

schufen daraus religiöse Rechtfertigungen für einen vorwiegend politischen Terrorismus. Viele<br />

Dschihadgruppen islamistischer Organisationen setzten diese Ideologie in die Tat um. 2<br />

Der Koran kann offensichtlich für höchst unterschiedliche Zwecke instrumentalisiert werden,<br />

weil er – ähnlich wie die Bibel – in verschiedenem Zusammenhang widersprüchliche Gebote enthält.<br />

Es gibt Friedens- und Toleranzgebote, Ablehnung von Gewaltherrschaft und Unterdrückung: „Wenn<br />

einer jemanden tötet, jedoch nicht wegen eines Mordes oder weil er auf der Erde Unheil stiftet, so ist<br />

es, als hätte er die Menschen alle getötet.“ (Sure 5, 32), „Es gibt keinen Zwang in der Religion.“ (Sure<br />

2, 256). Andere Suren scheinen das Gegenteil zu besagen, wenn von aggressivem Dschihad, Missionierung<br />

und von Gewalt gegenüber Andersgläubigen die Rede ist. Allerdings können sich die Übersetzungen<br />

der Suren extrem unterscheiden. Der oft mit: „Und tötet sie (die Heiden), wo immer ihr sie

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