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Menschenbilder - Jochen Fahrenberg

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93 <strong>Menschenbilder</strong>: Psychologische, biologische, interkulturelle und religiöse Ansichten ( J. <strong>Fahrenberg</strong>, 2007)<br />

Weise sprachliche Kommunikation lernte, berichtete über ihr sprachfreies Denken, sie „empfand Gedanken“.<br />

Die bisherige Forschung zeigte zwischen menschlicher Sprache und der Kommunikation von<br />

Menschenaffen, wenn sie im Labor speziell unterrichtet wurden, zwar große Unterschiede, aber keine<br />

extreme Diskontinuität: Hominiden verfügen zweifelsfrei über Begriffsbildung und Zwei-Wort-Sätze,<br />

begreifen logische Relationen, allerdings keine ausgebildete Grammatik (Syntax).<br />

Sprache als System bedeutungsvoller Zeichen hat viele Aspekte: die Lautproduktion, den Wortschatz,<br />

die Syntax und die Bedeutung von Wörtern und Sätzen. Die heutigen Theorien scheinen jeweils<br />

nur Teile einer auf sehr komplexe Weise entstandenen Fähigkeit zu erfassen: das Sprachlernen<br />

durch Verstärkung (Burrhus F. Skinner), die Entwicklung sprachlicher Oberfächenstrukturen aufgrund<br />

von genetisch bestimmten Formen, den grammatischer Tiefenstrukturen (Noam Chomsky) oder die<br />

Sprache als Folge und Ausdruck der allgemeinen kognitiven Fähigkeiten des Menschen (Jean Piaget).<br />

Entwicklungspsychologisch ist das frühe soziale Lernen von den elterlichen Bezugspersonen ein<br />

besonders nachhaltiger, emotional getragener Vorgang. Auf welche Weise sich ein Kind mit den Eltern<br />

identifiziert und allmählich auf dem Wege der eigenen Identitätsfindung verselbständigt, ist ein<br />

grundlegender Prozess. Viele Aspekte des Menschenbildes und die Ansätze wichtiger Wertvorstellungen<br />

und Überzeugungen werden wahrscheinlich schon in der Vorschulzeit geformt. Der Kindergarten<br />

ist also nicht nur ein Ort, soziale Beziehungen in einer Gemeinschaft Gleichaltriger zu entwickeln, es<br />

ist eine Einrichtung für die kulturelle Tradition und andere gesellschaftliche und weltanschauliche<br />

Erziehungseinflüsse. In totalitären Staaten ist die frühe politische Indoktrination ein Mittel zur Machterhaltung.<br />

Religiöse und politische Überzeugungen werden sich nachhaltiger formen lassen, wenn<br />

noch nicht viele andere und ggf. konkurrierende Informationen vorhanden sind bzw. verglichen werden<br />

können.<br />

Gesellschaft, Kultur, Persönlichkeit<br />

Das Verhalten der Menschen kann in drei aufeinander bezogenen Beschreibungssystemen erfasst werden:<br />

das System der Persönlichkeit mit den individuellen Eigenschaften, das System der Gesellschaft<br />

mit ihren Institutionen und sozialen Rollenzuweisungen, das System der Kultur mit den relativ überdauernden<br />

Wertorientierungen und Überzeugungen.<br />

Der Begriff des Systems wird gerne verwendet, um die engen Wechselwirkungen und Rückkopplungen<br />

verschiedener Komponenten zu betonen. Ursachen und Wirkungen sind in solchen Systemen<br />

nicht ohne weiteres zu trennen, die Vorgänge müssen „systemisch“ gesehen werden, wobei angenommen<br />

wird, dass manche Eigenschaften nur am System insgesamt zu erkennen sind, nicht an den einzelnen<br />

Mitgliedern oder Komponenten. Im System Familie gehen zwar von den Eltern aktive Erziehungsmaßnahmen<br />

aus, doch werden diese von den individuellen Reaktionen der Kinder positiv oder<br />

negativ gesteuert. Kinder fordern ihre Eltern heraus und testen, wie weit sie gehen können. Erziehungsberater<br />

haben nicht selten mit solchen Familienkonstellationen zu tun, in denen sich Konflikte<br />

aufschaukeln und sich verselbständigen. Das System Familie kann in störender Weise durch andere<br />

Kommunikations- und Interaktionsformen überlagert sein, so dass Hilfen notwendig werden. Nicht<br />

allein das schwierige Kind ist gestört, sondern ein ganzes Familiensystem, und es muss ein neues<br />

Gleichgewicht gesucht werden.<br />

Wenn die drei Systeme Gesellschaft, Kultur und Persönlichkeit unterschieden werden, liegt dies<br />

auch an den „zuständigen“ Wissenschaften Soziologie, Kulturanthropologie und Psychologie. In der<br />

Wirklichkeit besteht natürlich ein einziges umfassendes System, dessen Umfang und Komplexität jede<br />

Einzelwissenschaft überfordern. Diese drei Systeme, die der amerikanische Soziologe Talcott Parsons<br />

beschrieb, sind aus heutiger Sicht durch weitere Systeme und Wechselwirkungen zu erweitern: Viertens,<br />

die Umwelt bzw. das Ökosystem unserer äußeren Lebensbedingungen und der knapper werdenden<br />

Ressourcen; fünftens, die entstehende weltweite Zivilisation, Ökonomie und Kultur als Folge der<br />

Globalisierung der früher nationalstaatlich begrenzten Verhältnisse.<br />

Alle diese Systeme und Umwelten, auch die übernommene religiöse Glaubenswelt und der politische<br />

Lebensraum sind – genau genommen – konstruierte Welten, denen wir bereits mit theoretischen<br />

Voreingenommenheiten und mit Vorurteilen begegnen. Demgegenüber gibt es eine ursprüngliche<br />

Lebenswelt. Dies ist die Welt, die wir vorfinden, in der wir spontan, unbefangen und naiv (ohne Vorgefasstes)<br />

und mit einem offenen Horizont existieren. Der Philosoph Edmund Husserl forderte, die

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