Menschenbilder - Jochen Fahrenberg
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180 <strong>Menschenbilder</strong>: Psychologische, biologische, interkulturelle und religiöse Ansichten ( J. <strong>Fahrenberg</strong>, 2007)<br />
In Abgrenzung vom Utilitarismus hat in neuerer Zeit John Rawls Grundsätze der Gerechtigkeit<br />
entwickelt. Eine Gesellschaft soll es nicht für zulässig erklären können, dass zugunsten der Güterverteilung<br />
auf politisch-rechtliche Gleichheit und andere Freiheiten verzichtet würde. – Dieser absolute<br />
Vorrang der Freiheit bzw. die Maximierung der individuellen Freiheit und Chancengleichheit können<br />
jedoch kritisiert werden. Menschen, deren materielle Lebensbedingungen sehr gering und ungesichert<br />
sind, werden mit guten Gründen eher auf abstrakte Freiheiten und sogar auf demokratische Teilhaberechte<br />
verzichten als die Wohlhabenden.<br />
Die aktuellen Auseinandersetzungen über Bioethik zeigten ein weiteres Dilemma auf. Für den<br />
Deutschen Ethikrat war eine Enquête-Kommission von Experten, Vertretern von Organisationen und<br />
Kirchen tätig. Die Präimplantations-Diagnostik bevor das befruchtete Ei in den Uterus eingesetzt wird,<br />
um zu prüfen, ob genetische Defekte bestehen, wurde von der Enquêtekommission mit 16 zu 3 Stimmen<br />
weiterhin abgelehnt; in einer repräsentativen Umfrage sprachen sich jedoch zwei Drittel der Befragten<br />
dafür aus. Der Ethikrat und dessen Kommissionen werden ernannt; sie sollen nicht die ethischen<br />
Überzeugungen in der Bevölkerung repräsentieren. Das Grundgesetz sieht keine direkte Demokratie<br />
vor, denn Gesetzgebung ist Sache des Parlaments. Wenn jedoch die Ansicht der ausgewählten<br />
Experten und die mehrheitliche Überzeugung der Bevölkerung weit auseinander fallen, muss dies in<br />
einer Demokratie zu einem Thema der öffentlichen Diskussion werden – wie geschehen. Einen Teil<br />
dieser aktuellen Diskussion brachte Michael Naumann auf den Punkt: Bioethik ohne Gott ist möglich,<br />
sie muss aber die Erfahrungen der deutschen Geschichte aufnehmen.<br />
Universale oder partikuläre Ethik?<br />
Die Frage, ob verbindliche ethische Normen ohne Gott möglich sind, kann aus mehreren Gründen<br />
bejaht werden. Das Grundgesetz, die UN-Erklärung der universalen Menschrechte und die Rechtsordnungen<br />
vieler Staaten enthalten keine theologische Begründung. Die Menschenwürde kann und muss<br />
religions-neutral definiert werden. Auch die Anhänger anderer Religionen oder Atheisten und Agnostiker<br />
vermögen offensichtlich ethisch zu handeln. Es muss hochmütig oder unüberlegt wirken, wenn in<br />
einer pluralistischen Welt an der absoluten Wahrheit der göttlichen Letztbegründung der Moral festgehalten<br />
und die ethische Überzeugung nicht-religiöser Menschen abgewertet wird.<br />
Die Kontroverse über die letzte, sicherste und universale Begründung der Ethik ist nicht abgeschlossen<br />
und wird, ihren Voraussetzungen nach, nicht zu beenden sein. So werden öffentliche Wertkonflikte<br />
in der Gesellschaft fortbestehen. Bischöfe verlangen eine stärkere Geltung der christlichen<br />
Wertmaßstäbe, nicht-religiöse Bürger wollen das dogmatische Wertemonopol der Kirchen noch mehr<br />
relativieren.<br />
<strong>Menschenbilder</strong> und religiös motivierte Wertkonflikte<br />
Kirche und Staat<br />
Das Verhältnis von Staat und Kirche ist in Deutschland komplizierter als in vielen europäischen<br />
Nachbarstaaten, denn die Verfassung räumt den als Religionsgemeinschaften anerkannten Institutionen<br />
besondere Rechte ein, jedoch bisher ausschließlich den christlichen und jüdischen Religionsgemeinschaften.<br />
Einige Besonderheiten erinnern an staatskirchliche Elemente. Das sog. Subsidaritätsprinzip<br />
besagt, dass im wechselseitigen und öffentlichen Interesse eine Zusammenarbeit, u.a. im sozialen,<br />
schulischen und universitären Bereich, stattfindet. Diese Kooperation hat eine beträchtliche finanzielle<br />
Basis. Trotz dieses Subsidaritätsprinzips sind die staatlichen Institutionen zur weltanschaulichen<br />
Neutralität verpflichtet, falls nicht spezielle, anderslautende Gesetze vorhanden sind. Die Grundrechte<br />
der Verfassung sollen unabhängig von der Religionszugehörigkeit gelten. Dennoch bestehen auffällige<br />
Parteilichkeiten, die von nicht der Kirche angehörenden Bürgern beanstandet werden. 8<br />
Aktuelle Konflikte dieser Art sind die Verankerung der Europäischen Verfassung im christlichen<br />
Gottesbegriff, der Ethik- und Religionsunterricht in der Schule, die verhinderte Anerkennung und<br />
deswegen Benachteiligung nicht-christlicher Religionsgemeinschaften, und früher das Kruzifix-Urteil<br />
des Bundesverfassungsgerichts. Weiter zurück liegen andere Wertkonflikte mit z.T. langen juristischen<br />
Auseinandersetzungen bis zum Verfassungsgericht: Meinungsfreiheit (Kunstfreiheit) bei religi-