Menschenbilder - Jochen Fahrenberg
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232 <strong>Menschenbilder</strong>: Psychologische, biologische, interkulturelle und religiöse Ansichten ( J. <strong>Fahrenberg</strong>, 2007)<br />
provoziert dazu, andere Seiten des Menschen hervorzuheben, d.h. Gefühl und Natur, Empfindsamkeit<br />
und Romantik, Poetisches und Spirituelles. Die Säkularisierung der Gesellschaft wird für eine moralische<br />
Dekadenz verantwortlich gemacht. Der Rationalismus wird zum Ziel grundsätzlicher philosophischer<br />
Kritik, u.a. seitens der Kritischen Theorie (Frankfurter Institut für Sozialforschung) oder in der<br />
sog. Postmoderne. Kritik ist auch von anderen Positionen aus möglich: Die bürgerliche Aufklärung sei<br />
nicht progressiv genug, um eine umfassende Emanzipation von ökonomischen und politischen Herrschaftsverhältnissen,<br />
Meinungsmanipulation durch Medien, Mode und Konsumwerbung, dem „was<br />
man tut und denkt“, dem politisch korrekten Verhalten zu erreichen. – Die Prozesse der Aufklärung<br />
und Gegenaufklärung projizieren jeweils auch bestimmte <strong>Menschenbilder</strong>.<br />
Kritische Theorie und Dialektik der Aufklärung<br />
In ihren Essays zur Dialektik der Aufklärung hatten Max Horkheimer und Theodor W. Adorno im<br />
amerikanischen Exil eine Auseinandersetzung mit der Idee der Aufklärung geschrieben. Die Anfangssätze<br />
des ersten Kapitels, das dem Begriff der Aufklärung gewidmet ist, lauten: „Seit je hat Aufklärung<br />
im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht<br />
zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen<br />
triumphalen Unheils. Das Programm der Aufklärung war die Entzauberung der Welt. Sie sollte die<br />
Mythen auflösen und Einbildung durch Wissen stürzen.“ (Vorwort Dialektik der Aufklärung) 21<br />
In diesem Hauptwerk der Kritischen Theorie aus der Frankfurter Schule postulieren Horkheimer<br />
und Adorno, dass das Scheitern der Aufklärung bereits in der „instrumentellen Vernunft“ dieses Denkens<br />
angelegt sei: Aus dem Versuch, die Natur zu beherrschen, folge eine konformistische Zustimmung<br />
zum Bestehenden, d.h. die Haltung des Positivismus. Die Vernunftherrschaft, zu der die Aufklärung<br />
beitrug, sei zur Herrschaft der Unvernunft geworden. Die Rationalität habe sich gegen die Ratio<br />
gekehrt. Nicht bloß das Irrationale sei zu fürchten, sondern ebenso die Exzesse der Rationalität. Der<br />
allgemeine Rationalitätsglaube wirke sich als Verblendung der Subjekte aus. Unter dieser Vernunftherrschaft<br />
sei der Einzelne den ökonomischen und politischen Mächten ausgeliefert, denn die nur von<br />
der Vernunft geleiteten Gesellschaftsentwürfe würden sich den Prinzipien der Naturbeherrschung,<br />
Nützlichkeit und Berechenbarkeit unterwerfen. An die Stelle der befreienden Aufklärung aus der Unmündigkeit<br />
tritt das wirtschaftliche und politische Interesse, das Bewusstsein der Menschen zu manipulieren.<br />
Aufklärung werde zum Massenbetrug, wie der Kulturbetrieb mit seiner gleichförmigen Massenproduktion<br />
im Vergleich zur authentischen Kultur erkennen lasse.<br />
Durch die Vereinheitlichung des Denkens, würden die gesellschaftlichen Subjekte zum manipulierbaren<br />
Kollektiv. In der „rätselhaften Bereitschaft der technologisch erzogenen Massen“ läge auch<br />
die Bereitschaft, sich den totalitären Ideologien auszuliefern, so dass im Zusammenbruch der Zivilisation<br />
eine neue Barbarei entstehen konnte. Der herrschenden Vernunft sei wesensgemäß ein Irrationalismus<br />
zu eigen, der sich im faschistischen Denken einen antizivilisatorischen Ausdruck verschafft<br />
habe.<br />
All das hatte Kant gewiss nicht gemeint, als er Mut zur Aufklärung forderte. Wie kommt es zu<br />
diesem Zerrbild der Aufklärung und des vernünftigen Denkens? Sollte nicht auch begrifflich besser<br />
differenziert werden? Der Diagnose des Unheils nach Weltkrieg und Holocaust wird niemand widersprechen.<br />
Auch viele andere stellten fest, dass es im Zeichen der Aufklärung bisher nicht gelang, „in<br />
einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten“. Die folgenden Ursachenzuschreibungen sind jedoch<br />
so pauschal und begrifflich so missverständlich, dass sie Widerspruch provozieren.<br />
In der Tradition Kants wäre es zweckmäßig, zwischen Vernunft, Verstand und Urteilsvermögen<br />
zu unterscheiden. Der Verstand, heute prägnanter als Intelligenz zu definieren, kann Sinneswahrnehmungen<br />
verarbeiten und isolierte Aufgaben nach Denkregeln bearbeiten, Ursachen und Wirkungen<br />
begreifen. Die Vernunft ist geistige Reflexion, oberstes Erkenntnisvermögen, sich selbst zu prüfen und<br />
die eigenen Grenzen zu erkennen, und vor allem die Fähigkeit, zu allgemeinen Vernunftideen und<br />
Sittlichkeit zu gelangen. Durch Vernunft kann der spezielle Gebrauch der Intelligenz (instrumentelle<br />
Vernunft) kontrolliert und im größeren Zusammenhang bewertet werden. Urteilsvermögen ist die individuelle<br />
Fähigkeit eines Menschen, einen Sachverhalt zutreffend zu beurteilen und zum Ausgang<br />
vernünftigen Handelns zu nehmen.<br />
Die möglichen Missverständnisse ihrer Ansichten scheinen Horkheimer und Adorno kaum zu<br />
prägnanten Klarstellungen veranlasst zu haben. Was unterscheidet ihre Begriffsbildung und ihre