Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...
Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...
Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
1963 Romain Rollands „Johann Christof“<br />
„Da scheint ein gewitzter Spottvogel die Wand beschrieben zu<br />
haben.“ – „Nee, das ist in Marmor gemeiselt!“ – „Dann“, sag<br />
ich, „ist das vor 1910 vom alten Kommerzienrat N. angebracht<br />
worden, der ein sehr lutherischer Mann war und mit dem Worte<br />
auf die Vergänglichkeit des irdischen Besitzes hindeuten wollte.<br />
Freilich, die Doppeldeutigkeit, die das Wort durch die 1945 er-<br />
folgte Vertreibung der Erben dieser Millionen bekam – die hat<br />
der alte Herr kaum vor<strong>aus</strong> geahnt.“ Du siehst, es geschehen<br />
sehr seltsame Dinge, die nicht nur dadurch sonderbar werden,<br />
daß wir sie in irgendeinen Zusammenhang bringen.<br />
20. März<br />
Den „Dr. F<strong>aus</strong>tus“ von Thomas Mann bringe ich mit, ich lege<br />
ihn dann gleich in den Koffer, ihn nicht zu vergessen. „Ich würde<br />
raten“, mit dem Rolland zu beginnen, der ist am ehesten zu ver-<br />
stehen. Immerhin ist erstaunlich, daß diese Auswahl getroffen<br />
wird. Legt noch „Wilhelm Meister“ und „Nachsommer“ 5 dazu!<br />
31. März<br />
Gestern abend nahm ich mir gleich mal den Band „Johann<br />
Christof“ vor, den Stups liest. Und dazu versammelten sich<br />
noch ein paar Bücher um mich, <strong>aus</strong> denen sich manches in dem<br />
Rollandschen Buche wird erklären lassen. Man muß sich klar<br />
sein, daß Rolland einerseits ein sehr gelehrter Professor der<br />
Musikgeschichte an einer Pariser Hochschule war (im Riemann<br />
nachlesen) und zudem ein Dichter hohen Ranges. Und als Dich-<br />
ter schaltet er völlig frei über das historische Material. Im Rie-<br />
mann steht zum Joh. Christof: „der Held ist ein deutscher Musi-<br />
ker“. Und in dieses Heldenleben hat Rolland viele Wesenszüge<br />
Beethovens einwachsen lassen, völlig frei damit schaltend –<br />
5 Romain Rolland, Johann Christof; Goethe, Wilhelm Meister; Adalbert Stifter, Der<br />
Nachsommer.<br />
wird doch stellenweise Beethoven als längst gewesen genannt.<br />
Daß aber vor allem <strong>aus</strong> der Jugendgeschichte Beethovens sehr<br />
viele Züge auf Johann Christof übergegangen sind, liegt ganz<br />
offen zu Tage. Vieles ist dabei in ein anderes Lebensalter ver-<br />
legt. Das werde ich an einem Beispiele morgen genauer her<strong>aus</strong>-<br />
schreiben. Viele Gestalten sind auch anders genannt oder er-<br />
funden oder zeitlich anders eingeordnet. Der Haßler dürfte der<br />
Deckname für Haydn sein, der 1790 anläßlich seiner 1. Londo-<br />
ner Reise am Hofe des Bonner Kurfürsten 6 gastierte und dabei<br />
dem 19jährigen Beethoven, der Mitglied der Kapelle war, zum<br />
ersten Male begegnete. Rolland legt diese Begegnung in ein<br />
früheres Alter Beethovens. – Es ist im „Glasperlenspiele“ ähn-<br />
lich. Hesse bringt da auch Thomas Mann und Jacob Burckhardt<br />
zusammen, die sich im Leben nie gesehen haben. Und viel-<br />
leicht ist es gar nicht so nötig, da alles aufschlüsseln zu wollen.<br />
Der Dichter läßt die Gestalten seiner Phantasie vor dem Leser<br />
auftreten und begabt sie mit Erlebnissen oder Eigenschaften,<br />
die schon einmal an einem – oder an mehreren – Menschen<br />
vorhanden waren. Sags Stupsen.<br />
102 103<br />
2. April<br />
„Man“ – nein, ich vermute Haydn unter Haßler. Die Zeitun-<br />
terschiede dürfen uns nicht irren. Rolland schaltet da sehr ei-<br />
genmächtig – es ist eben keine Beethovenbiographie – kom-<br />
men doch Wagner und Richard Strauß (nochmal Richard wie<br />
Wagner) als schon vorhanden vor. Grundzüge des deutschen<br />
Nationalcharakters – gute wie üble – Elemente des Wesens, das<br />
Beethoven hieß, werden durcheinander geknetet. Das beste<br />
sind die jugendpsychologisch so wertvollen ersten 300 Seiten.<br />
Zu breit werden dann die Weibergeschichten. Ich lese das Buch<br />
jetzt abends noch einmal und werde mir Auffallendes noch be-<br />
6 Maximilian Franz von Österreich (1756–1801), seit 1784 Kurfürst von Köln