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Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...

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1960 Dresden<br />

leisteten, hat der Verfasser entweder nicht gewußt oder nicht<br />

für wichtig gehalten. Es ist schon gut, wenn inzwischen die<br />

Berggeister erwachen, wenn der Ochse merkt, wie stark er ist.<br />

In einem Schlosse war noch ein Zimmer zu sehen, in dem<br />

Elisabeth von England übernachtete, als sie ihren Liebling, den<br />

Grafen Essex, besuchte: „das Bett noch so wie sie es verlassen<br />

hat“ 13 . Sie hat ihn dann 1601 hinrichten lassen.<br />

Bd. II, 78: „Faßt man alles zusammen, so kann man wohl<br />

behaupten, daß niemand das Leben auf eine so edle und man-<br />

nigfaltige Weise genießt, als Engländer <strong>aus</strong> den höheren Krei-<br />

sen der Gesellschaft, welche sich neben dem Reichthum auch<br />

einer allgemeineren geistigen Bildung erfreuen. Nimm zu jenen<br />

würdigen, erhebenden Umgebungen bildender Kunst, zu jenen<br />

musikalischen Genüssen, den bequemsten Gebrauch von al-<br />

len Schätzen der Literatur, welcher ihnen durch ihre trefflichen<br />

Privat-Bibliotheken geboten wird, den Aufenthalt auf den rei-<br />

zendsten Landsitzen, oder die Reisen in den schönsten Gegen-<br />

den Europa’s, endlich die vielseitigste und interessanteste ge-<br />

sellige Berührung, so wirst Du mir zugeben, daß ihnen nicht<br />

viel zu wünschen übrig bleibt.“ – Aber die unwürdige Grund-<br />

lage dieser Art von Leben sieht der reisende Professor nicht.<br />

Man braucht sich nicht zu wundern, daß Marx, der in London<br />

beides sah – die Arbeiter<strong>aus</strong>beutung und die Edelfäule der<br />

oberen Gesellschaft – 1848 das „Kommunistische Manifest“ he-<br />

r<strong>aus</strong>schleuderte.<br />

13. April<br />

Gestern abend las ich eine Charakteristik Napoleons 14 von<br />

Jacob Burckhardt, die muß ich Dir mal bieten, wenn wir Zeit<br />

dazu finden. Die Überschätzung dieses „Großen“ durch Goethe<br />

13 Ebenda, S. 489.<br />

14 Napoleon I. nach den neuesten Quellen (Vortrag, Februar 1881). In: Gesamt<strong>aus</strong>-<br />

gabe. Bd. 14, Berlin und Leipzig 1933, S. 221–243.<br />

tut einem dann doch recht leid – um Goethes willen, der sich<br />

da als ein zu optimistischer Beurteiler der in dieser niedrigen<br />

Gestalt verkörperten menschlichen Natur erwiesen hat. Aber die<br />

Reihe der „Großen“ – Constantin, Alexander III., Heinrich VIII.,<br />

Philipp II., Napoleon, Hitler – wird leider nie <strong>aus</strong>sterben und in<br />

den verschiedensten Formaten – vom H<strong>aus</strong>- und Schultyrannen<br />

bis zum Weltverwüster – sich fortpflanzen.<br />

Dresden, den 20. April<br />

Das Schreiben von Ort und Datum ist so ungewohnt, es ruft<br />

Erinnerungen an Schulzeiten hervor, da jedes Diktat mit der<br />

Zeile begann: Dresden, den … Ich muß mein Urteil über diese<br />

Stadt revidieren: nur das frühere Centrum macht einen fried-<br />

hofsmäßigen Eindruck. Hier in Neustadt – ich schreibe dies auf<br />

einer Bank am Nordplatz sitzend, wo Büsche und Bäume und<br />

Sonnenschein und Weiträumigkeit herrschen, hier ist ein Groß-<br />

stadtbetrieb, wie man ihn sich nicht lebhafter wünschen kann –<br />

wenn man so etwas überhaupt wünschen sollte. Vorüber gehen<br />

Schulkinder vom Unterrichte heim: alle sprechen russisch, die<br />

Jungen tragen graue Uniformen und Militärmützen und rotes<br />

Halstuch, die Mädel sind sehr verschieden, aber gut bürgerlich,<br />

mit Zöpfchen und Haarschleifen. Russische Soldaten in langen<br />

Kolonnen, dicht besetzte Militärautos: ich komme mir vor, als<br />

sei ich im Ausland. Hans wohnt in einer durch Gärten aufgelo-<br />

ckerten Straße, die zwar Tag und Nacht von Auto, Autobus und<br />

Elektrischer durchrast wird – aber eine Minute über die Straße<br />

gehend, betritt man den Wald – Dresdener Heide, in dem stun-<br />

denlange Wanderungen möglich sind. – Heute vormittag war<br />

ich in der Bibliothek, mir Verschiedenes anzusehen, das mich<br />

interessierte. Allerdings schon angesichts der Katalogsäle kann<br />

man vor der Fülle des Vorhandenen verzweifeln. (Jetzt fahren<br />

wieder Dutzende vollbesetzte russ. Militärautos vorbei. Ich<br />

glaube, sogar die Hunde bellen anders.) Schön steht das zarte<br />

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