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Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...

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1969 Sarrasani<br />

über dieses Land geflossen! Aus der täglich wechselnden Fülle<br />

sehr verschiedenartiger Forderungen könnte jeder Politiker ler-<br />

nen, was alles zur „Kunst der Menschenbehandlung“ gehört. Es<br />

wird deutlich, daß Goethes Spruch: „Was aber ist deine Pflicht?<br />

Die Forderung des Tages“ 7 ein Leitsatz seines Handelns war. Ich<br />

bin sehr froh, diese Veröffentlichung noch erlebt zu haben. Man<br />

sollte sich vor der Auffassung hüten, ein Aktenstück müsse tro-<br />

cken und langweilig sein. Jedes Aktenblatt enthält kristallisier-<br />

tes Leben. Welcher Zug von Gestalten geht da am Leser vor-<br />

über, vom Fürsten angefangen bis zum ärmsten Bittsteller ist<br />

vielerlei vertreten: randalierende Studenten, arme Strumpfwe-<br />

ber in Apolda, strebsame Handwerker, selbstbewußte Profes-<br />

soren, der einfache Soldat, bescheidene und anspruchsvolle<br />

Leute. Verwickelte Sachgebiete fordern ein strenges Sich-Ein-<br />

arbeiten: die Ordnung des bedrohten Geldwesens der durch<br />

Kriege erschütterten Währungen, die Beruhigung der aufgereg-<br />

ten Studenten von Jena, Bauangelegenheiten, Universitätsfra-<br />

gen, Ausbildung geeigneter Hilfskräfte, Berufungen geeigne-<br />

ter Professoren, Einrichtung einer Akademie, Rechtsfragen des<br />

Lehnswesens. An Sachkenntnis, an die Kunst der Menschenbe-<br />

handlung, an einfach menschliche Güte werden hohe Anforde-<br />

rungen gestellt. Und mit welcher Kunst der Formulierung sind<br />

schließlich die Vorschläge und Entschließungen zusammenge-<br />

faßt. Für heutige Leser sind diese Aktenstücke nach fast zwei-<br />

hundert Jahren Spiegelungen der Verfasser, die glaubten, daß<br />

diese Dokumente ungelesen in den Archiven lagern würden.<br />

25. April<br />

Ich bin tief in den „Wilhelm Meister“ geraten und bewun-<br />

dere immer mehr dieses Kunstgebäude, das ich vor 73 Jahren<br />

das erste Mal las und das man nie <strong>aus</strong>lesen wird.<br />

7 Maximen und Reflexionen (Hecker: 443).<br />

250 251<br />

28. April<br />

Nach Wildes „Dorian Gray“ sehe ich. Das ist sozusagen eine<br />

Parallele zu Balzacs „Chagrinleder“, wo das Dissipationsgesetz<br />

der Energetik zu Grunde liegt. Das picture bei Wilde entspricht<br />

der peau de chagrin bei Balzac als Symbol des Überganges le-<br />

bender Energie in tote, ein nicht umkehrbarer Vorgang. Ich er-<br />

innere mich noch genau, das Buch Wildes an einem sonnigen<br />

Tage der Pfingstwoche auf einer Wiese liegend gelesen zu ha-<br />

ben; das war etwa 1912, ist also schon ein paar Jahre her.<br />

29. April<br />

Die Einladung zu dem von der Gewerkschaft in Döbeln ver-<br />

anstalteten „Eichendorff-Nachmittag“ ließ ich an mir vorüberge-<br />

hen; denn man muß immer fürchten, daß alte liebe Worte in mo-<br />

derne Verbindungen gebracht und dadurch entstellt werden. […]<br />

Gestern zeigte mir *** ein kleines glänzendes Mineral mit<br />

einem wohl <strong>aus</strong>gebildeten Kristall – klein – <strong>aus</strong> dem schwar-<br />

zen Biotitglimmer. Er hatte es sich von einer Arbeiterin gelie-<br />

hen, um es mir zu zeigen; er war ganz begeistert. Das schätze<br />

ich an diesem Manne; er unterscheidet sich da sehr von seines-<br />

gleichen. Die Arbeiterin stammt <strong>aus</strong> Halsbrücke, wo das Stück<br />

wohl auf einer Halde gefunden wurde.<br />

30. April<br />

*** gab mir ein höchst interessantes Buch von einem „Tier-<br />

bändiger“ – er nennt sich selbst „Tierlehrer“ – und jeder Leh-<br />

rer könnte von ihm lernen: Otto Sailer-Jackson, „Löwen – meine<br />

besten Freunde“. Etwa 300 Seiten, die ich gestern abend ab 7 h<br />

in einem Zuge zu Ende las. Ich hab den Mann mal in Dresden<br />

gesehen, als mich Sarrasani 8 durch die Ställe führte. Der Mann<br />

saß in seinem Löwenkäfig. Sarrasani: „Na nu, Sie haben doch<br />

8 Hans Stosch-Sarrasani (1873–1934), Zirkusdirektor in Dresden.

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