Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...
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1962<br />
Korinth, wo er sich offenbar als Verbannter aufhielt, eine Trost-<br />
bude eröffnet haben mit der Aufschrift: er könne die Betrüb-<br />
ten durch Reden heilen. Wenn die Leute dann kamen, horchte<br />
er sie <strong>aus</strong>, wo es ihnen fehlte, und redete ihnen dann durch<br />
seine trauerstillenden Vorträge das Unglück <strong>aus</strong>. Dies würde<br />
zum stärksten gehören, was menschliche Rede sich zugetraut.<br />
Man frage sich, wem in unsrer Zeit ein solcher Gedanke kom-<br />
men könnte. So Burckhardt gegen Ausgang des vorigen Jahr-<br />
hunderts; er hat eben Freud und die Psychoanalyse nicht mehr<br />
kennengelernt.<br />
12./13. Oktober<br />
Mitternacht – Bilder sind noch <strong>aus</strong>zuwässern. Einiges hab<br />
ich nochmal kopiert, auf kleinerem Format aber besserem Pa-<br />
pier, das ich noch bei Frl. Rieger bekam, allerdings ein letzter<br />
Rest, da sie keine Amateurarbeiten mehr <strong>aus</strong>führt, nichts im<br />
Kontaktverfahren kopiert, sondern alles auf Bromsilberpapier,<br />
das ich nicht verwenden kann, weil es mit Vergrößerungsap-<br />
parat belichtet wird, wobei sie natürlich Zeit spart. Und da sie<br />
keine Leute kriegt, beschränkt sie sich auf die Sachen, die von<br />
denen anfallen, die sich von ihr „abnehmen“ lassen. Fortschritt<br />
– wie überall. Wir hatten hier früher 7 Übernachtungsgaststät-<br />
ten – heute eine; wir hatten 4 Drogerien, wo man Chemikalien<br />
kaufen konnte – gibt es heute in keiner; wir hatten vier Buch-<br />
bindereien – heute keine. Und so geht der Fortschritt fort! Ein<br />
Geschäft (HO) gibt es, wo die allernötigsten Fotosachen angeb-<br />
lich zu haben sind. Ich verlange Fixiernatron; die „Verkäuferin“:<br />
„Mir ham bloß Fixiersalz.“ – „Zeigen Sie es her! Natürlich ist es<br />
Fixiernatron, chemisch Natriumthiosulfat“ – höchst erstauntes<br />
Gesicht, wie bei Moliere, wo einer – ein Parvenue – sich einen<br />
Lehrer nimmt und sehr erstaunt ist, als er lernt, daß seine ge-<br />
wöhnliche Redeweise „Prosa“ ist. Er bewundert sich selbst. So<br />
ist das beschissene Leben schon seit Jahrt<strong>aus</strong>enden. […]<br />
13. X. Im Wasser sahen die Bildchen besser <strong>aus</strong> als im fer-<br />
tigen Zustande. Bei den Großeltern sah ich eine Photographie<br />
<strong>aus</strong> Wolfsburg: bestes Papier, beneidenswert schön – aber<br />
es stellte einen „Aufmarsch“ uniformierter alter Knacker vor,<br />
Schützenfest oder so etwas. Dazu gibt es dort gutes Papier. Der<br />
Deutsche wird eben in Uniform geboren und beerdigt.<br />
16. Oktober<br />
Der Dresdener [Erich] Strauß will nach dem Westen gehen,<br />
das sei jetzt für alte Leute sehr erleichtert, nämlich hier fort zu<br />
kommen. Man will vielleicht alte Rentner abstoßen. Dr. Schu-<br />
mann schrieb auch davon, er will aber hier bleiben. Ich auch.<br />
9./10. November<br />
Natriumthiosulfat<br />
Heute hatte Konrad Schlesier seinen Vetter R<strong>aus</strong>chenbach<br />
mit in die Englische Stunde gebracht. Das war sehr interes-<br />
sant: dieser, in der 12. Klasse, hat 7 (sieben) Jahre Englisch […].<br />
Aber beinah kann ich sagen, daß der andre in 7 Wochen bes-<br />
ser spricht und liest als dieses Oberschulerzeugnis, dem die<br />
elementarsten Vor<strong>aus</strong>setzungen einer richtigen Aussprache nie<br />
klar gemacht worden sind. Daß die Klangbildung der Vocale<br />
von der Artikulationsbasis der Konsonanten bedingt ist, daß<br />
die Klangfarbe eines Instruments durch seine Form bedingt ist<br />
– keine Ahnung. Daß man automatisch zur richtigen Vokalisa-<br />
tion kommt, wenn die Zunge die richtige Ansatzstelle findet,<br />
ist nie deutlich gemacht worden. Was wissen denn diese Leute<br />
überhaupt? „Poverty“, „Elendsviertel“ und dergleichen abge-<br />
droschenes Zeug. Ein armseliges Lehrbuch braucht natürlich<br />
armselige Lehrer, ein anderer könnte diese Aufgabe gar nicht<br />
übernehmen. Denn auf Buch und Plan verzichten ist wegen<br />
herrschender „Kontrolle“ ganz unmöglich. Dieser Verfall des<br />
Unterrichtes, der bei den Nazis begann, ist zu einem Grade fort-<br />
geschritten, wie man es sich früher nie hätte träumen lassen.<br />
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