Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...
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1970 Neun Jahre hinter Stacheldraht<br />
13. August<br />
Neun Jahre hinter Stacheldraht. Auch heute brachte die Post<br />
– nichts; sie ging einfach vorüber, genau so bezahlt, als wenn<br />
sie Lasten befördert. Die Zeitung tut so, als ob sie plötzlich ihr<br />
blödes Geschimpf vergessen habe, das sie sonst täglich erschallen<br />
ließ. Offenbar hat sie von ihrem Herrn und Meister einen Befehl<br />
bekommen, den sie nun treu und bieder <strong>aus</strong>führt. Nicht mal<br />
ein Jubiläumsartikel zum Gedenken an die Errichtung der Mauer,<br />
alles brav und bieder. „Bauern trotzen dem Regen“ ist der einzige<br />
aggressive Satz in dem sonst so sehr angriffslustigen Blättchen,<br />
in dem erst „Kumpel trotzen dem Frost“, „Ernteeinsatz<br />
trotzt der Hitze“, „Wir trotzen dem Schlamm“ zu lesen war.<br />
Wiedenhofen bei Immenstadt im Allgäu, 11. Sept[ember]<br />
Ich bin am Donnerstag hierher gebracht worden bei hochsommerlichem<br />
Wetter; gestern nebelten sich die Berge ein und<br />
ab Mittag goß es so reichlich, daß ich das Steigen eines Gewässers<br />
beobachten konnte. Heute hat der Regen aufgehört, doch<br />
die Berge sind noch von Wolken verhüllt. Silberne, großblütige<br />
Wetterdisteln, blauer Enzian, kleine weiße Augentrostblümchen<br />
wachsen am Wege. Wie schön könnte das alles sein, wärest Du<br />
hier in dieser Stille, in die nur das Anschlagen der Glocken tönt,<br />
die die Kühe am Halse tragen.<br />
Das sind die Vorberge der Alpen. Der nächste ist der Grünten<br />
1738 m hoch. Immenstadt – ostwärts – und Lindau westlich,<br />
südlich Oberstdorf – das ist etwa das Gebiet, in das ich<br />
geraten bin.<br />
7305 <strong>Waldheim</strong> i. Sa., den 21. Oktober<br />
Freilich ist die Silberdistel ein Bild der Sonne und eine Verwandte<br />
der Sonnenrose und vieler anderer, die zum Familientage<br />
der Compositen kommen, wo das Gänseblümchen zur<br />
Sonnenrose sagen kann: „ich gehöre auch zur Familie“, ebenso<br />
wie Astern und Chrysanthemen, die vielgestaltige Gruppe der<br />
Disteln, die Flockenblumen und Artischocken, Bocksbart und<br />
Lattich, Habichtskräuter (zum Lattich der Kopfsalat!), Löwenzahn,<br />
das ist eine der Pflanzenfamilien, die einen großen Kreis<br />
von Verwandten haben. Es ist manchmal sehr gut, sich so einen<br />
„Familientag von Pflanzen“ vorzustellen; denn da kommen<br />
große und kleinste zusammen. Unwahrscheinliche Begegnungen<br />
gibt es da. Denn an die Verwandtschaft Deines Kopfsalates<br />
mit Löwenzahn, Sonnenblume und Silberdistel hast Du<br />
wohl kaum gedacht.<br />
27. Oktober<br />
Daß Du tief atmen kannst, des solltest Du sehr froh sein.<br />
Mir gelang das bis zu einem für mich ungewöhnlichen Grade<br />
erst, als ich einige Tage über t<strong>aus</strong>end Meter hoch zugebracht<br />
hatte. Je höher, desto besser ging das. Jetzt ist das eine angenehme<br />
Erinnerung. Man sollte sich wie Villers 11 seinen alpinen<br />
Wohnort wählen können und nur besuchsweise in niedrig gelegenen<br />
Ländern zubringen. Oder öfter größere Flugreisen unternehmen.<br />
Diese sind aber paßmäßig sehr umständlich und<br />
recht teuer, wenn man nicht in der Flugmaschine eine Anstellung<br />
findet, z.B. Staub wischen. Es wird aber zu viele Bewerber<br />
um solche Stellen geben.<br />
11. November<br />
Gestern kam bereits ein westdeutscher Nachruf auf den<br />
Tags zuvor gestorbenen de Gaulle. Das war sprachlich ein Meisterwerk;<br />
ich kann mir nur denken, daß dies schon lange vorher<br />
abgefaßt worden ist, denn es erscheint völlig unmöglich, so<br />
ein Kunstwerk – mit allerhand Dokumentationen – in 24 Stun-<br />
den abzufassen.<br />
11 Alexandre de Villers (1812–1880), der sächsischen Gesandtschaft angehörig,<br />
quittierte 1870 seinen Dienst und bezog das Wiesenh<strong>aus</strong> in Neulengbach/<br />
Niederösterreich, das ihn für die ungeliebte Arbeit als Diplomat entschädigte, s.<br />
auch Brief vom 27. Februar 1968.<br />
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