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Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...

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1969<br />

fällt, das Elementarteilchen organischer und anorganischer Ma-<br />

terie; er ist bereit, zu neuen Formen sich zusammenzuordnen<br />

und ruht nur ein weniges <strong>aus</strong>; er kann unter langem Drucke zu<br />

Stein erstarren; er kann in den Aufbauprozess des Organischen<br />

wieder eingeordnet zu Blättern und Blüten umgebaut werden –<br />

aber er wird „gewischt“, in Unruhe versetzt, als unerwünschte<br />

Erinnerung an die Hinfälligkeit alles Seienden, nicht geachtet<br />

als Durchgangsform von Gestalt zu Gestalt. So Tabakasche:<br />

unter äquatorialer Sonne in großer Plantage zu riesigen Blät-<br />

tern herangewachsen, erfüllt mit den narkotischen Kräften ei-<br />

ner üppigen Natur, um die halbe Welt gereist, in Fabriken um-<br />

geformt, durch Handelsorganisationen umhergeschickt, zuletzt<br />

verbrannt; als Asche bereit, in neue Formen einzugehen – acht-<br />

los verworfen und „bekämpft“.<br />

29. Januar<br />

Heute stand ich bereits 5 30 auf. Wenn man schlafen könnte<br />

– das wäre schön, so wie es Sokrates in seinem Gespräch mit<br />

den Freunden im Gefängnis von Athen beschreibt, kurz bevor<br />

er wegen der angeblichen Beleidigung der Staatsgötter den<br />

Schierlingsbecher kredenzt bekommt.<br />

Gestern kam ich mit dem ehemaligen Direktor [Penzel] der<br />

Notenbank in ein Gespräch über die Harmonik in der Musik, in<br />

der Pythagoräischen Sphärentheorie, in der Architektur, in der<br />

Rationalität der Indices im Aufbau der Kristalle, in der Symmet-<br />

rie organischer Gebilde – und da sagt der Mann, ihm werde da-<br />

bei schwindlig, das sei nicht zu begreifen. Und ich hab mir im-<br />

mer gedacht, meine Fähigkeit, etwas Kompliziertes – ohne es<br />

zu verwässern – begreiflich darzustellen, sei eigentlich das Ein-<br />

zige, das ich verstehe. Man kann sich also über seine eigenen<br />

Begabungen sehr täuschen.<br />

8. Februar<br />

Dann traf ich den 78jährigen Studienrat Dr. Fiedler, der<br />

seinerzeit von der Neroslow 4 furchtbar gepeinigt wurde – bis<br />

er schließlich in Mittweida seine letzten Dienstjahre zu Ende<br />

brachte; er wohnt noch dort. Das ist noch ein friedensmäßig<br />

<strong>aus</strong>gebildeter Germanist gewesen, der wahrscheinlich unter<br />

diesem Direktorialgespenst am meisten gelitten hat. Rabelais,<br />

der im 16. Jahrhundert von den Ketzerrichtern der Sorbonne<br />

in Paris dem Scheiterhaufen bedrohlich nahe gebracht wurde,<br />

mußte auch auf der Hut sein – er konnte aber noch nach Ita-<br />

lien, nach Westdeutschland, nach Südfrankreich <strong>aus</strong>weichen<br />

und sich in Sicherheit bringen. Mittlerweile wurde die Welt klei-<br />

ner, jedoch die Bosheit nicht geringer. Das Leben scheint zu<br />

allen Zeiten ein gefährliches Abenteuer zu sein. Entgeht einer<br />

den Wölfen, so umzingeln ihn die Schlangen.<br />

10. Februar<br />

Auf der Goldenen Höhe traf ich gestern mittag den Musik-<br />

lehrer Opitz <strong>aus</strong> Döbeln, den Du auch mal in einem seiner Kon-<br />

zerte in der Oberschule Döbeln sahst, wo der Bassist Wollrad<br />

sang. Dieser ist zur Zeit an der Landesbühne Radebeul-Dres-<br />

den und kommt demnächst an die Oper in Dresden. Opitz ist<br />

seit fünf Jahren nicht mehr an der Lessing-Oberschule Döbeln,<br />

sondern an der Körnerplatzschule, von Sandner vertrieben,<br />

der ihm seine Mitarbeit bei kirchlichen Musikveranstaltungen<br />

verübelte. Frau Nowakowski ist Rentnerin und „mag sich ihre<br />

Schuhe nicht durch Betreten der Lessing-Oberschule beschmut-<br />

4 Gertrud Neroslow (1889–1957) war 1942 zusammen mit ihrem Mann, dem Maler<br />

Alexander Neroslow (1891–1971), wegen ihrer Widerstandsarbeit gegen das NS-<br />

Regime zu lebenslänglichem Zuchth<strong>aus</strong> verurteilt worden, eine Strafe, die sie im<br />

Zuchth<strong>aus</strong> <strong>Waldheim</strong> verbüßen mußten. Vgl. auch Hans Grundig, Zwischen Karne-<br />

val und Aschermittwoch, Berlin 1955. Von 1945–1951 leitete Gertrud Neroslow die<br />

damalige Luther-Schule in <strong>Waldheim</strong>.<br />

Entgeht einer den Wölfen...<br />

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