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Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...

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1963 Anders-Sein<br />

Künste das Sittengesetz anerkennen und sich ihm unterordnen<br />

sollen. Das erste haben sie immer gethan und müssen es thun,<br />

weil ihre Gesetze so gut als das Sittengesetz <strong>aus</strong> der Vernunft<br />

entspringen; thäten sie aber das zweyte, so wären sie verlo-<br />

ren, und es wäre besser, daß man ihnen gleich einen Mühlstein<br />

an den Hals hinge und sie ersäufte, als daß man sie nach und<br />

nach ins Nützlich-Platte absterben ließe.“ Da hat er seinem<br />

Herzen Luft gemacht. Was würde er heute schreiben über die<br />

„gelenkte“ Literatur!<br />

31. Januar<br />

Woher einer wissen soll, daß Du „keine Zeit“ hast! Du bist<br />

doch sehr naiv. Es ist das natürlichste Ding von der Welt, daß<br />

Rentner mal hier mal da mit ihren Verwandten sich unterhal-<br />

ten, und da – nach Goethe – „das Studium der Menschheit der<br />

Mensch ist“ 2 , reden sie eben von den Menschen und nicht nur<br />

vom Mond und von der Kälte. Und daß da eine „H<strong>aus</strong>frau“,<br />

die Geige spielt und sich mit ihren Kindern mehr beschäftigt<br />

als das die dafür zuständige Schule tut und demzufolge „keine<br />

Zeit hat“, einen Gesprächsstoff bildet – das ist doch unbeschäf-<br />

tigten Leuten nicht zu verübeln! Welches Zerrbild ist von dem<br />

Goethe entworfen worden, der für die üblichen „Gesprächs-<br />

stoffe“ keine Teilnahme heuchelte. Selbst Leute wie Jean Paul<br />

und Seume fühlten sich dort erkältet. Seume hat auch im „Erb-<br />

prinzen“ übernachtet, der jetzt „Park-Hotel“ heißt (ich weiß<br />

nicht ob Du Dich dieses alten Gebäudes noch erinnerst). Es<br />

ist völlig verkehrt, den Leuten das übel zu nehmen, daß sie<br />

die Köpfe schütteln wegen des „Anders-Seins“ anderer Leute.<br />

Ich erinnere immer wieder die erste Versammlung des Wald-<br />

heimer „Pädagogischen Vereins“ 1908 im Ratskeller, die mit<br />

¾ Stunde Verspätung begann. Dort wurde ich teilnehmend ge-<br />

2 Die Wahlverwandtschaften. Zweiter Teil. Siebentes Kapitel. Aus Ottiliens Tagebuche.<br />

fragt, ob ich magenkrank sei. „Weshalb?“ – „Nu, warum trinken<br />

Sie da kein Bier!“ Und dieses Aus-der-Reihe-Tanzen meinerseits<br />

brachte die andern auf, formierte sie zu einem Block, verkit-<br />

tete den Staub zu Zement! Das solltest Du endlich gelernt ha-<br />

ben, diesen sich auf der ganzen Welt wiederholenden Vorgang<br />

zu verstehen und zu übersehen. Was heißt da: die Leute ließen<br />

sich leicht schlecht beeinflussen? Da bedarf es gar keiner Be-<br />

einflussung: das bloße „Anders-Sein“ des einen vereint die an-<br />

dern ganz automatisch, da ist gar keine Propaganda nötig. Der<br />

Kanarienvogel ist nur ein Sperling mit gelbem Frack – sowie er<br />

als einzelner unter die braunen Sperlinge gerät, fallen die über<br />

ihn her – nur wegen seines Federkleides, das er sich nicht mal<br />

selbst <strong>aus</strong>suchte.<br />

11. Februar<br />

Bei Friedrich Ratzel „Über Naturschilderung“ – das Buch,<br />

das ich seit Jahren jährlich einmal lese – da steht S. 156: „Wer<br />

sich angesichts des bekannten ,Angelus‘ von Millet nach dem<br />

Grunde des tiefen Eindrucks fragt, der von diesem Bilde <strong>aus</strong>-<br />

geht, wird natürlich an die Abendfeier nach hartem Tagwerk, an<br />

das Gebet, in das die beiden Gestalten versunken sind, zuerst<br />

denken. Dann aber wird ihm auch in dem großartig Elementa-<br />

ren zweier einfachen, aufrecht vor dem Abendhimmel stehen-<br />

den, von der Horizontlinie geschnittenen Figuren ein Erhabe-<br />

nes erscheinen.“ Das Kapitel hat die Überschrift: „Das Erha-<br />

bene im Weiten“. Du darfst nicht alles, was heute als „Kunst“<br />

<strong>aus</strong>gestellt wird, für Kunst nehmen. Da liegt ein Fehler des Be-<br />

trachters, veranlaßt durch die Absichten der Sch<strong>aus</strong>teller, die<br />

„Kunst“ als Mittel einer bestimmt gerichteten Propaganda ver-<br />

wenden. Daß es neben der Schundliteratur eine Schundkunst<br />

gibt, scheint niemand aufzufallen – beide werden im Zeiten-<br />

laufe vergessen. Man denke an Fr. v. Logau: „Die Ros’ ist ohn<br />

Warumb – sie blühet weil sie blühet – sie acht’ nicht ihrer<br />

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