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Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...

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1969 Hermann Hesses „Glasperlenspiel“<br />

Erscheinungsbilde). Man mißt also nicht die Ursachen – Wärme,<br />

Luftdruck, Feuchtigkeit – sondern deren Wirkungen auf die<br />

wachsende Welt sind zu beobachten. Das gibt dieses Jahr sehr<br />

viele „Verspätungen“ – also nicht bloß auf der Eisenbahn. Verbindet<br />

man auf einer Karte, z.B. von Sachsen, jeweils die Orte<br />

des gleichzeitigen Aufblühens der zu beobachtenden Pflanzen,<br />

so erhält man Linien, Isochronen = Gleichzeitigkeitslinien, an<br />

denen man die Höhennatur der Gebiete ähnlich zu sehen bekommt<br />

wie auf Höhenlinienkarten. Es ist das dann eine gewachsene<br />

Klimakarte, eine sehr interessante Sache. An der Reihenfolge<br />

der Linien erhält man sozusagen die Treppe, auf der<br />

der „Frühling auf die Berge steigt“. Wir erlebten ähnliches mal<br />

auf einer Fahrt nach Ilmenau, wo das Blühen, das in Weimar<br />

uns umgab, noch in den Knospen steckte. Man kann sich damit<br />

die Frühlingsfreude dadurch verlängern, daß man jeweils in die<br />

Gegend reist, wo Büsche und Blumen gerade in voller Pracht<br />

stehen, etwa in der Reihe Dresden–Freiberg–Marienberg–Seiffen,<br />

dann erlebt man ein sehr langes Frühjahr. Das schiebt sich<br />

in diesem Jahre um Wochen hin<strong>aus</strong>.<br />

31. März<br />

Eben – 11 30 h – frühstückt das kleine schwarze Eichhörnchen<br />

auf meinem Fenster; gegen 8 h war bereits das braune da.<br />

Dieses „Futterstreuen“ ist nun gerade noch mein Lebenszweck<br />

– man wird nach und nach recht bescheiden. […]<br />

Wie manchmal ein Wort eine ganze Welt erleuchtet! Im<br />

„Glasperlenspiel“ verlegt H. Hesse das Kloster der Spieler in<br />

eine ideale Landschaft, die er Kastalien nennt. Das geht zurück<br />

auf den Kastalischen Quell auf Delphos, der am reichlichsten<br />

von allen griechischen Quellen fließt und <strong>aus</strong> dem die neun<br />

Musen kamen, die Symbole aller Kunst und Weisheit der Antike.<br />

Damit ist angedeutet, welche bewahrende Arbeit die Benediktiner<br />

Klöster vor allem übernahmen, die Welt vom Humanismus<br />

her zu betrachten. Am Ende tritt dann der weltzuge-<br />

wandte Freund Designori in das Geschehen, der Mann der Tat,<br />

dessen Sohn zu erziehen Josef Knecht übernehmen will, also<br />

die „moderne“ Welt, wobei er zu Grunde geht.<br />

8. April<br />

Nächste Woche werden 120 Personenautos voll Rentner in<br />

geschlossener Kolonne über Dresden nach Pillnitz gefahren,<br />

dort mit Kaffee und Kuchen bewirtet und in eben dem Festzuge<br />

zurückgebracht. An der Spitze fährt *** mit Fahne – am<br />

Schlusse ein Autoreparaturwagen. [...] Ich habe mit bestem<br />

Danke darauf verzichtet, mich an diesem Vergnügen zu beteiligen.<br />

Verkehrspolizei sorgt unterwegs für störungsfreie ununterbrochene<br />

Fahrt. Na, wenn das nichts ist, das Lebensgefühl<br />

der Insassen zu erheben und das Bewußtsein ihrer Wichtigkeit<br />

zu steigern! Die Pläsiere der Könige werden zu Amusementen<br />

des Volkes. Na, noch muß man so etwas nicht mitmachen!<br />

Vielleicht werden auch die „Vergnügungen“ noch mal Pflicht.<br />

So zur Übung, während der Fahrt den Schnabel zu halten. Das<br />

kann ich in meiner Kl<strong>aus</strong>e viel besser tun.<br />

12. April<br />

Das Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft 1968 und der 2. Band<br />

von „Goethes Amtlichen Schriften“ wären nun in der ersten Lesung<br />

verschlungen. Nun käme eine zweite Lektüre, die Kostbarkeiten<br />

zu vertiefen. Man sollte nicht für möglich halten, daß<br />

man <strong>aus</strong> einem Akten-Bande soviel Neues, Gutes, Schönes ernten<br />

könne. Ohne zu wissen oder zu ahnen, daß diese „geheimen<br />

Aktenstücke“ jemals von jemand wieder gelesen werden<br />

würden, haben sich darin Goethe, Voigt, Carl August Denkmäler<br />

ihrer Menschlichkeit, ihres Weitblickes, ihrer gesunden Urteilskraft<br />

gesetzt, die ihre Größe immer erstaunlicher erscheinen<br />

lassen. Daß diese drei Männer in Thüringen gleichzeitig<br />

das Land regierten, ist ein Glücksfall seltener Art in der Ge-<br />

schichte. Welch ein Strom von Weisheit und Güte ist damals<br />

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