Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...
Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...
Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
1962 Buchmaler und Schreiber<br />
sen, es sei denn der Arbeiter hätte eine Erbschaft gemacht oder<br />
in der Lotterie gewonnen, beides sehr seltene Fälle.<br />
4. Juni<br />
Der von den Atombombenversuchen verseuchte Himmel<br />
hängt wieder grau vor dem Fenster. Wirklich, eine recht erbauli-<br />
che Welt. – Das ist nun wohl der Gipfel, der nicht mehr zu über-<br />
gipfeln ist: „Tabletten, die mit Sicherheit bewirken, daß man<br />
den Ereignissen des Lebens ruhiger begegnet.“ Was von in-<br />
nen her – durch geistige Bemeisterung der Erscheinungen – bei<br />
wachem Bewußtsein zu geschehen hätte, wird nun von außen<br />
durch etwas Freßbares zu erzwingen versucht, durch eine teil-<br />
weise physiologische Narkose. Ich muß schon sagen: Wäre ich<br />
Gesundheitsminister, ließe ich diesen ganzen Vorrat dieser Tab-<br />
letten ins Wasser werfen, auf die Gefahr hin, daß die Fische dem<br />
Geangeltwerden mit völliger Seelenruhe entgegenschwimmen.<br />
Nach und nach scheint freilich alles wahnsinnig zu werden. […]<br />
Im Amselnest sind zwei Junge bereits geschlüpft, vier Eier<br />
liegen noch drin und werden bebrütet; bloß den Alten sah ich<br />
noch nicht, er will offenbar in übertriebener Bescheidenheit<br />
nicht als Verfasser seiner Werke erkannt werden und meidet<br />
Begegnungen mit Menschen.<br />
Fahrpläne. Interessante Armseligkeit ist es doch: Da gibt es<br />
(„gibt“ – wirklich) einen „Internationalen Fahrplan“ für die Be-<br />
nutzer von Interzonenzügen – aber einen für Reisen innerhalb<br />
dieses Gefängnisses sucht man vergeblich! Da muß man auf<br />
dem Bahnhofe sich umsehen. Nun frage ich mich, wer wohl den<br />
Interzonenfahrplan braucht. Freilich: „die wieder zurückreisen“<br />
– aber es kommt kaum jemand herein, und wenn schon, dann<br />
wird er so gefesselt sein, daß er hier bleibt. Wozu dann dieser<br />
Fahrplan? (Beruhigungstablette!)<br />
Hattest Du eigentlich heute Geigenstunde? Das hab ich<br />
ganz vergessen, wie das geregelt war, obwohl ich es doch mit<br />
angehört habe. Alles Wirkung der Bombenluft! (Tablette!) Je-<br />
denfalls sind die kümmerlichen Figuren, die im Mittelalter und<br />
bei „F<strong>aus</strong>t“ als Teufel so den Ausbund der Bosheit darstel-<br />
len sollten, doch ganz armselige Dilettanten gegenüber diesen<br />
Atomfritzen, denen auch niemand beikommen kann.<br />
84 85<br />
4./5. Juli<br />
Ich hab gleich noch zwei Bücher gebunden. Den Gluck, den<br />
ich Dir schickte, kannst Du doch, wenn Du ihn gelesen hast, als<br />
„kunstgewerbliche Ware“ an [das Antiquariat] Engewald ver-<br />
kaufen und dabei das mehrfache des Einkaufspreises erzie-<br />
len. Man muß immer sehen, daß man zu etwas kommt. Solche<br />
Bastelei ist eine ganz vergnügliche Sache. Ich könnte mir den-<br />
ken, daß ich so vor 600 Jahren als Buchmaler und Schreiber in<br />
irgendeinem Benediktiner-Kloster allerhand nette Sächelchen<br />
gepinselt hätte.<br />
Daß Du in mehreren Geschäften Anstand lernst, ist fast<br />
strafbar. Eier sind jetzt sogar in Kriebethal knapp! Warum? Die<br />
Hühnerhalter bekommen Körnerfutter nur nach der Zahl der<br />
von ihnen an der Sammelstelle abgelieferten Eier. Wenn sie<br />
also selber Eier für sich haben wollen, sind sie gezwungen, je-<br />
des übrige abzuliefern, weil es eben an Körnerfutter fehlt, das<br />
sonst nirgends zu haben ist. So greift eins ins andre. Und zau-<br />
bern kann eben niemand.<br />
In „Wilhelm Meisters Wanderjahren“, I. Buch 12. Kapitel,<br />
tritt ein Alter auf, der in einem jahrhunderte alten H<strong>aus</strong>rate<br />
wohnt und den sehr anschaulich schildert, wobei sehr ver-<br />
nünftige Begründungen gegeben werden. „Anteil und Tätigkeit<br />
konnt’ ich daher auf gar viele andere Gegenstände wenden,<br />
weil ich mich mit der Veränderung dieser äußern Bedürfnisse,<br />
die so vieler Menschen Zeit und Kräfte wegnimmt, nicht weiter<br />
beschäftigte“ u.s.w. Der Mann sollte sich heute durch die Stra-<br />
ßen bewegen und von all den Plakaten anschrein lassen, die