Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...

1972 Olympiade in München
„Germanistischen Studien“ (Herausgeber Prof. Dr. Hans Kauf-
mann, Prof. Dr. Gerh. Scholz u. Prof. Dr. Hans-Günther Thal-
heim) erschienenes Buch von Klaus Hermsdorf. 20 Das ist eine
ausgezeichnete Arbeit. Aus dieser wird klar, wie sich die Düster-
nis Kafkas entwickeln mußte: er war deutschsprachiger böhmi-
scher Jude, hatte einen unverständigen Vater, der als kleinbür-
gerlicher Unternehmer in einem gewissen Wohlstand sein Geld
verdiente; nach dem Besuche eines Gymnasiums studierte er
Jura und wurde Verwaltungsjurist bei einer Unfallversicherung,
wo ihm die Sturheit der Unternehmer und das Elend verun-
glückter Arbeiter Kummer machten, fand keine Möglichkeit sich
zu verheiraten und starb schließlich an einer Tuberkulose, wohl
noch nicht 40 Jahre alt. Also ein von allen Seiten gestörtes Le-
ben, aus dessen sich überschneidenden Spannungen sich das
Trübe, Verschwommene des Werkes verstehen läßt. Denn es ist
eigentlich alles gegen ihn: der verständnislose Vater, die Deut-
schen (weil er Jude ist), die Tschechen (weil er Deutscher und
Jude ist), die profitgierigen Unternehmer (wenn er den Arbei-
tern zu ihrem Rechte verhelfen will), wohl auch manche Arbei-
ter (wenn er ihnen nicht mehr Unfallrente bewilligen kann, als
das Gesetz und seine Auftraggeber festsetzten) – da kann einer
schon den Verstand verlieren, abgesehen von seinem langsa-
men Eingehen an seiner Krankheit. Und die Prager Juden waren
auch untereinander zerstritten; das weiß ich aus einer Tagung
in Prag, wo ich als Berater und Übersetzer eine Woche bei Prag
jüdische und tschechische Journalisten und Ärzte kennenlernte.
Das war zu dem noch eine geistige Auslese, von denen man et-
was Sinn für „Reconciliation“ erwarten konnte. Die „Fellowship
of Reconciliation“ hatte mich dahin geschickt. 21
20 Kafka. Weltbild und Roman, Berlin 1961.
21 Die jährlichen Konferenzen des Internationalen Versöhnungsbundes fanden an ver-
schiedenen Orten in verschiedenen Ländern statt: 1928 in Klanovice bei Prag. Dort
gehörte die Organisation „Neues Jerusalem. Internationale Abrüstungsbewegung
26. August
Eben rauscht der Beginn der Münchener Olympischen Spiele
aus dem Radio – das muß ein gewaltiger Auftrieb von Menschen
sein. „Die größten Teilnehmerzahlen“, die meisten …, alles im
Superlativ. Selbstbewußtsein oder „Selbstest“-Bewußtsein. […]
Entscheidend ist freilich, zu welchen Zielen einmal diese die
Welt umspannende Gemeinsamkeit angewendet werden wird.
Diese organisatorisch und technisch einzuüben – das dürfte der
tiefere Sinn der Olympiade sein. Der Sport ist der Stab, an dem
sich die zarte Pflanze „Weltfrieden“ emporranken könnte. Diese
Überlegung sollte recht ernst genommen werden.
5. September
Der olympiadische Jubel ist nun durch die Ermordung
zweier Israelis im olympischen Dorf durch einige Araber schwer
gedämpft worden. Mitten in der Civilisation herrscht die Barbarei.
9. September
Gestern kam ich auf dem Markte in einen Guß und stellte
mich in eine Haustür, wo mir eine Frau klagte, daß in Waldheim
„nichts los“ sei. Früher hätte die Volkshochschule doch etwas
geboten. Sie hatte sich bei der jetzigen Einrichtung um Teilnahme
an einem Kurs für Englisch bemüht. Dieser kam nicht
zustande, weil sich „zu wenige“ gemeldet hatten. Hier gibt es
wohl nur noch einen Kunstgeschichtskurs, den eine 83jährige
aus Leisnig hält. Da könnte ich mich also um eine „Beschäftigung“
bewerben – aber „das lassen wir“ 22 , wie schon Mephistopheles
sagt. Über Nacht erinnerte ich mich an meine Arbeiten
mit der Volkshochschule, die ich hier von 1920–1933 23 betrieb.
in der Tschechoslowakei“ dem Versöhnungsbund an. Arthur Pfeifer war zu der Zeit
gewähltes Mitglied im Arbeitsausschuß des deutschen Zweigs des Bundes.
22 Faust II. Zweiter Akt. Hochgewölbtes enges gotisches Zimmer.
23 Arthur Pfeifer war zu der Zeit der Direktor der Waldheimer Volkshochschule.
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