Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...

1967 Apoll in der Maske des Dionys
12. Januar
Heute steht als Schlagzeile in der Zeitung: „Kunst gedeiht
nur im Kampf“ – dann ist also Raffael und Leonardo, Dürer und
Holbein, Goethe nicht zur Kunst zu rechnen. Oder Mozart! Bei
diesem wäre also der Kampf um die paar Pfennige die Voraus-
setzung seiner Meisterwerke. Seine Notlage war also kunstför-
dernd. Die Knausrigkeit des Kaisers in Wien ist dann pädago-
gisch gerechtfertigter Weitblick und nicht spießerhafte Spar-
samkeit gewesen. Es ist doch erstaunlich, mit welcher Frechheit
dieser Kulturminister Gysi 1 in die Gegend faselt.
4. April
„The proletarians have nothing to lose but their chains. They
have a world to win. / Working men of all countries, unite!“ 2
Da staunst Du! Ja, da darfst Du nicht solche Aufträge geben.
Aus dem „Progress Publishers Moscow“ hab ich hier das „Ma-
nifesto of the Communist Party“! Wann willst Du dies im Un-
terricht verwenden? Ich kann dieses Exemplar Dir sofort schi-
cken, und ich könnte mir denken, daß Du soviel Exemplare als
nötig für die Kursteilnehmer erhalten kannst – das Stück kos-
tet nur 0,80 M, obwohl direkt aus Moskau, wenn die nötige An-
zahl in der Russischen Buchhandlung Ecke Grimmaische und
Petersstraße bestellt wird. Es ist sehr sauber auf gutem Pa-
pier gedruckt.
Hemmungen bei Schülern lassen sich vielleicht mit folgen-
der Überlegung überwinden:
Ein Wort, das nur ein Hauch des Mundes ist, vermag alle Be-
wohner der Welt zu erschüttern.
Merken!
1. Die Weisheiten des Confuzius hielten Millionen Chinesen in
Bann.
1 Klaus Gysi (1912–1999), 1966–1973 Kulturminister der DDR.
2. Buddhas Reden beherrschen noch heute Südasien.
3. Die Bibel hat in fast 2000 Jahren auf der ganzen Welt Leser
und Hörer.
4. Der arabische Koran Mohammeds gilt in weiten Gebieten Af-
rikas und Asiens.
5. Das Kommunistische Manifest zwingt alle, sich mit ihm zu
beschäftigen, obwohl es erst 120 Jahre alt ist.
Es zwingt auch die Gegner, sich damit zu befassen.
Alle diese Dokumente waren nicht etwa „Unterhaltungslek-
türe“, sondern sie waren und sind Instrumente der Weltverän-
derung, ganz gleich ob Millionen anderer Meinung sind.
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19. Juni
„Statt vorzuspielen“ – das erinnert mich an den Prof. Ja-
ques-Dalcroze 2 , einen französischen Schweizer, dem die Hel-
lerauer Werkstätten eine geräumige Tanzschule mit großem
Saale gebaut hatten und dessen Sachen ich mal in Montreux
sah: Herein trat ein „älterer Herr“ so Ende Fünfzig mit leicht er-
grautem Haar, ebensolchem Kinnbart und rundlichem Bauche,
Würstchenfinger – und hielt einen recht guten Vortrag, setzte
sich an den Flügel, und herein kamen seine Schülerinnen, die
sein wechselndes Spiel mit den köstlichsten Tanzfiguren in das
Optische übersetzten, hier und da ein kurzer Zuruf; hätte die-
ser Zauberer hinter einem Vorhang gesessen, wäre niemand da
gewesen, der sich solch eine behäbige Figur als den Schöpfer
dieser graziösen Bewegungen vorgestellt hätte: Das war Apoll
in der Maske des Dionys.
2 Der Musikerzieher und Komponist Émile Jaques-Dalcroze (1865–1950) lehrte seine
Methode der rhythmisch-musikalischen Erziehung von 1910–1914 vor einem gro-
ßen internationalen Schülerkreis an der speziell für ihn erbauten Bildungsanstalt
für Musik und Rhythmus in Dresden-Hellerau. 1915, nach Ausbruch des 1. Welt-
kriegs, gründete er das Jaques-Dalcroze-Institut in Genf. Arthur Pfeifer erlebte ihn
auf der Zweiten Internationalen Erziehungskonferenz 1923 in Montreux.