Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...
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1970 „Warten auf Godot“<br />
ter „moderner“ Musik! Die Texte der Wünsche, herzlich und<br />
fromm, erinnern an die Zeit vor hundert Jahren, an das Bie-<br />
dermeier, eine Generation vorher. Da ist nichts von geschraub-<br />
ter moderner Intellektualität, eine altväterliche „Gemüt“lichkeit<br />
lehrt, daß das Emotionale das Primäre, das durch lange Zeit-<br />
räume Beständige ist; da erklang eine Bach’sche Orgelmusik<br />
über „Nun danket alle Gott“, auch der „Lindenbaum“ 5 wurde<br />
besungen wie vor alters. Das ist ein sehr lehrreicher Beitrag zur<br />
Zeitgeschichte, nicht nur mit dem, was geboten wird, sondern<br />
mit dem, was nicht vorkommt.<br />
18. März<br />
Schönen Dank für den guten Brief. Ja, das „auf neue Grund-<br />
lagen-Stellen“ ist ein Krebsübel, das allenthalben eben die ge-<br />
wünschten „Grundlagen“ ins Wanken bringen muß. Ein Grund<br />
mag sein, daß immer wieder neue Figuren zu dirigieren begin-<br />
nen, so daß die jeweiligen Personen „zur Geltung kommen“<br />
– oder auch nicht – notwendigerweise die Sache dabei leidet.<br />
Das „Sich-Wichtig-Nehmen“ der Interpreten verhindert eine ob-<br />
jektive Betrachtung. – Die Medizin entwickelte die Differential-<br />
Diagnose durch mehrere Ärzte mit gutem Grunde: die Subjek-<br />
tivität der Beurteilung durch einen Arzt durch Überlegen von<br />
mehreren soweit als möglich einzugrenzen. Es ist bemerkens-<br />
wert, daß solche Urteilskorrektur zunächst auf diesem Gebiete<br />
erfolgte, wo jede Fehlhandlung bald sichtbare und verhängnis-<br />
volle Folgen zeigt. Im Unterrichtswesen treten die Folgen einer<br />
Tätigkeit nicht ohne weiteres sichtbar zu Tage, aber sie wirken<br />
allmählich um so nachhaltiger. Merkwürdig bleibt, daß die „Bil-<br />
dung“ so selten als ein Wachstumsvorgang verstanden wird,<br />
der an die von der Natur gegebenen Wachstumsgesetze ge-<br />
bunden ist. Ein Park, der in jedem Herbst und Frühjahr von ei-<br />
5 Am Brunnen vor dem Tore... von Franz Schubert.<br />
nem neuen „Parkgestalter“ neu „geordnet“ wird, verwandelt<br />
sich in verhältnismäßig kurzer Zeit in ein wüstes Gelände, das<br />
niemand gern ansehen mag, trotzdem ein großer Aufwand an<br />
Mitteln dabei vergeudet wird. Daß dieser Grundsatz der Stetig-<br />
keit auch für andere Lebensbereiche gilt, wird heute den we-<br />
nigsten klar. Die „Mode“ hat ganz andere Grundlagen, da soll<br />
durch tägliche Entwertung des eben Erzeugten eine neue und<br />
dauernde Gewinnmöglichkeit erzeugt werden. Das geschieht<br />
mit der Wirkung, daß man bald nicht mehr weiß, was mit dem<br />
täglich größer werdenden Bergen von Abfall geschehen soll.<br />
Dem Modenwechsel im Bildungswesen steht aber dieser Aus-<br />
weg, die eben veralteten Arbeitsergebnisse einer Müllverbren-<br />
nung zu übergeben, nicht zur Verfügung.<br />
Samuel Beckett versammelt in dem Stück „Warten auf Go-<br />
dot“ vier Männer und einen Jungen. Der Godot, auf den der<br />
eine ganz besonders wartet, erscheint nicht, vielleicht Gott ge-<br />
meint. Diese – eine Art heruntergekommener Vagabunden –<br />
quälen sich durch das Stück mit „Warten“, sinnlos, ohne jedes<br />
andre Tun als Warten auf etwas, das nie kommt. Vielleicht soll<br />
das Sinnlose dargestellt werden, nichts zu tun als zu „warten“.<br />
Damit wäre eine Zeitvergeudung verbildlicht, die seit 1933 min-<br />
destens Millionen Menschen in einen trostlosen Wartestand<br />
versetzte: Warten auf Arbeit, auf politischen Wechsel, auf eine<br />
Schachtel Zündhölzer, auf Alarm, auf Entwarnung, auf verspä-<br />
tete Züge, darauf, daß es „was gibt“ – ganz gleich was. Milliar-<br />
den Stunden sind verwartet worden. Und dagegen stelle man<br />
Goethes Satz: „Es ist besser, das geringste Ding von der Welt<br />
zu tun, als eine halbe Stunde für gering halten.“ 6 So gewinnt<br />
dieses Stück einen Sinn.<br />
Brandt besucht morgen Buchenwald.<br />
6 Maximen und Reflexionen (Hecker: 752).<br />
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